an seinen Bruder gelegt hat. Ich verbiete dir den Kampf kraft meiner väterlichen und priesterlichen Gewalt. Hüte dich, ihr zu trotzen!"
"So stößest du mich aus deinem Hause," sagte Clemens düster. Eine Pause trat ein. Die Mutter, die in Thränen ausgebrochen war, stand auf und stürzte zu ihrem Sohn. "Mutter," sagte er ernst, "ich bin ein Mann, ich darf mir nicht untreu wer¬ den!" Er näherte sich der Thür und blickte nach Marlenen hinüber, die ihn mit den blinden Augen schmerzlich suchte. Die Mutter folgte ihm, sie konnte vor Schluchzen nicht sprechen. "Halt ihn nicht auf, Frau!" rief der alte Mann. "Er ist unser Kind nicht, wenn er Gottes Kind nicht sein will. Laß ihn gehn, wohin er will. Er ist todt für uns!"
Marlene hörte die Thür gehen und die Pfarrerin mit einem Schrei des tiefsten Mutterherzens zu Bo¬ den stürzen. Da wich die Lähmung von ihr, in der sie bisher gesessen hatte. Sie stand auf, ging zur Thür und trug mit gewaltsamer Anstrengung die ohnmächtige Frau auf ihr Bett. Der Alte stand am Fenster und sprach kein Wort. Seine gefalteten Hände zitterten heftig.
Eine Viertelstunde später klopft' es oben an der Thür von Clemens Kammer. Der junge Mann öff¬ nete und sah Marlenen vor sich stehen. Sie trat still hinein. Die Kammer war voll Unordnung. Sie
an ſeinen Bruder gelegt hat. Ich verbiete dir den Kampf kraft meiner väterlichen und prieſterlichen Gewalt. Hüte dich, ihr zu trotzen!“
„So ſtößeſt du mich aus deinem Hauſe,“ ſagte Clemens düſter. Eine Pauſe trat ein. Die Mutter, die in Thränen ausgebrochen war, ſtand auf und ſtürzte zu ihrem Sohn. „Mutter,“ ſagte er ernſt, „ich bin ein Mann, ich darf mir nicht untreu wer¬ den!“ Er näherte ſich der Thür und blickte nach Marlenen hinüber, die ihn mit den blinden Augen ſchmerzlich ſuchte. Die Mutter folgte ihm, ſie konnte vor Schluchzen nicht ſprechen. „Halt ihn nicht auf, Frau!“ rief der alte Mann. „Er iſt unſer Kind nicht, wenn er Gottes Kind nicht ſein will. Laß ihn gehn, wohin er will. Er iſt todt für uns!“
Marlene hörte die Thür gehen und die Pfarrerin mit einem Schrei des tiefſten Mutterherzens zu Bo¬ den ſtürzen. Da wich die Lähmung von ihr, in der ſie bisher geſeſſen hatte. Sie ſtand auf, ging zur Thür und trug mit gewaltſamer Anſtrengung die ohnmächtige Frau auf ihr Bett. Der Alte ſtand am Fenſter und ſprach kein Wort. Seine gefalteten Hände zitterten heftig.
Eine Viertelſtunde ſpäter klopft' es oben an der Thür von Clemens Kammer. Der junge Mann öff¬ nete und ſah Marlenen vor ſich ſtehen. Sie trat ſtill hinein. Die Kammer war voll Unordnung. Sie
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0075"n="63"/>
an ſeinen Bruder gelegt hat. Ich verbiete dir den<lb/>
Kampf kraft meiner väterlichen und prieſterlichen<lb/>
Gewalt. Hüte dich, ihr zu trotzen!“</p><lb/><p>„So ſtößeſt du mich aus deinem Hauſe,“ſagte<lb/>
Clemens düſter. Eine Pauſe trat ein. Die Mutter,<lb/>
die in Thränen ausgebrochen war, ſtand auf und<lb/>ſtürzte zu ihrem Sohn. „Mutter,“ſagte er ernſt,<lb/>„ich bin ein Mann, ich darf mir nicht untreu wer¬<lb/>
den!“ Er näherte ſich der Thür und blickte nach<lb/>
Marlenen hinüber, die ihn mit den blinden Augen<lb/>ſchmerzlich ſuchte. Die Mutter folgte ihm, ſie konnte<lb/>
vor Schluchzen nicht ſprechen. „Halt ihn nicht auf,<lb/>
Frau!“ rief der alte Mann. „Er iſt unſer Kind<lb/>
nicht, wenn er Gottes Kind nicht ſein will. Laß<lb/>
ihn gehn, wohin er will. Er iſt todt für uns!“</p><lb/><p>Marlene hörte die Thür gehen und die Pfarrerin<lb/>
mit einem Schrei des tiefſten Mutterherzens zu Bo¬<lb/>
den ſtürzen. Da wich die Lähmung von ihr, in der<lb/>ſie bisher geſeſſen hatte. Sie ſtand auf, ging zur<lb/>
Thür und trug mit gewaltſamer Anſtrengung die<lb/>
ohnmächtige Frau auf ihr Bett. Der Alte ſtand am<lb/>
Fenſter und ſprach kein Wort. Seine gefalteten Hände<lb/>
zitterten heftig.</p><lb/><p>Eine Viertelſtunde ſpäter klopft' es oben an der<lb/>
Thür von Clemens Kammer. Der junge Mann öff¬<lb/>
nete und ſah Marlenen vor ſich ſtehen. Sie trat<lb/>ſtill hinein. Die Kammer war voll Unordnung. Sie<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[63/0075]
an ſeinen Bruder gelegt hat. Ich verbiete dir den
Kampf kraft meiner väterlichen und prieſterlichen
Gewalt. Hüte dich, ihr zu trotzen!“
„So ſtößeſt du mich aus deinem Hauſe,“ ſagte
Clemens düſter. Eine Pauſe trat ein. Die Mutter,
die in Thränen ausgebrochen war, ſtand auf und
ſtürzte zu ihrem Sohn. „Mutter,“ ſagte er ernſt,
„ich bin ein Mann, ich darf mir nicht untreu wer¬
den!“ Er näherte ſich der Thür und blickte nach
Marlenen hinüber, die ihn mit den blinden Augen
ſchmerzlich ſuchte. Die Mutter folgte ihm, ſie konnte
vor Schluchzen nicht ſprechen. „Halt ihn nicht auf,
Frau!“ rief der alte Mann. „Er iſt unſer Kind
nicht, wenn er Gottes Kind nicht ſein will. Laß
ihn gehn, wohin er will. Er iſt todt für uns!“
Marlene hörte die Thür gehen und die Pfarrerin
mit einem Schrei des tiefſten Mutterherzens zu Bo¬
den ſtürzen. Da wich die Lähmung von ihr, in der
ſie bisher geſeſſen hatte. Sie ſtand auf, ging zur
Thür und trug mit gewaltſamer Anſtrengung die
ohnmächtige Frau auf ihr Bett. Der Alte ſtand am
Fenſter und ſprach kein Wort. Seine gefalteten Hände
zitterten heftig.
Eine Viertelſtunde ſpäter klopft' es oben an der
Thür von Clemens Kammer. Der junge Mann öff¬
nete und ſah Marlenen vor ſich ſtehen. Sie trat
ſtill hinein. Die Kammer war voll Unordnung. Sie
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855/75>, abgerufen am 25.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.