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Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855.

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die ihr zurief. Zitternd fuhr sie in die Höhe. Was
sollte sie thun? Sie versuchte unwillkürlich einen
Schritt, aber ihr Fuß glitt aus, sie taumelte und
fiel. Zum Glück waren die Steine neben dem Weg
mit Moos überwuchert. Aber dennoch betäubte sie
der Fall und sie schrie außer sich nach Hilfe. Um¬
sonst! Ihre Stimme drang nicht zu Clemens hin¬
auf, der hart an der Kluft vom Getöse umgeben
stand. Und das Haus war zu entfernt. Ein schnei¬
dendes Weh fuhr ihr durchs Herz, wie sie da lag
zwischen den Steinen, verlassen und hilflos; Thrä¬
nen der Verzweiflung im Auge, richtete sie sich müh¬
sam auf. Was ihr das Liebste war, schien ihr in
diesem Augenblicke hassenswürdig, und die Bitterkeit
in ihrem Innern ließ den Gedanken an die Nähe
des Allgegenwärtigen nicht auftauchen.

So fand sie Clemens, der sich um ihretwillen mit
Gewalt von dem Zauber des mächtigen Bildes los¬
gerissen hatte.

"Ich komme", rief er ihr schon von ferne ent¬
gegen. "Gut, daß du nicht mitgegangen! Der Platz
oben ist schmal und der kleinste Fehltritt kostet das
Leben. Wie das endlos tief sich hinunterstürzt und
rauscht und in Wolken aufsprüht, daß einem alle
Sinne vergehn. Fühl, wie es mich bestäubt hat mit
feinem Wasserdunst. Aber was ist dir? Du bist
eiskalt und dein Mund zittert. Komm, es war un¬

die ihr zurief. Zitternd fuhr ſie in die Höhe. Was
ſollte ſie thun? Sie verſuchte unwillkürlich einen
Schritt, aber ihr Fuß glitt aus, ſie taumelte und
fiel. Zum Glück waren die Steine neben dem Weg
mit Moos überwuchert. Aber dennoch betäubte ſie
der Fall und ſie ſchrie außer ſich nach Hilfe. Um¬
ſonſt! Ihre Stimme drang nicht zu Clemens hin¬
auf, der hart an der Kluft vom Getöſe umgeben
ſtand. Und das Haus war zu entfernt. Ein ſchnei¬
dendes Weh fuhr ihr durchs Herz, wie ſie da lag
zwiſchen den Steinen, verlaſſen und hilflos; Thrä¬
nen der Verzweiflung im Auge, richtete ſie ſich müh¬
ſam auf. Was ihr das Liebſte war, ſchien ihr in
dieſem Augenblicke haſſenswürdig, und die Bitterkeit
in ihrem Innern ließ den Gedanken an die Nähe
des Allgegenwärtigen nicht auftauchen.

So fand ſie Clemens, der ſich um ihretwillen mit
Gewalt von dem Zauber des mächtigen Bildes los¬
geriſſen hatte.

„Ich komme“, rief er ihr ſchon von ferne ent¬
gegen. „Gut, daß du nicht mitgegangen! Der Platz
oben iſt ſchmal und der kleinſte Fehltritt koſtet das
Leben. Wie das endlos tief ſich hinunterſtürzt und
rauſcht und in Wolken aufſprüht, daß einem alle
Sinne vergehn. Fühl, wie es mich beſtäubt hat mit
feinem Waſſerdunſt. Aber was iſt dir? Du biſt
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[30/0042] die ihr zurief. Zitternd fuhr ſie in die Höhe. Was ſollte ſie thun? Sie verſuchte unwillkürlich einen Schritt, aber ihr Fuß glitt aus, ſie taumelte und fiel. Zum Glück waren die Steine neben dem Weg mit Moos überwuchert. Aber dennoch betäubte ſie der Fall und ſie ſchrie außer ſich nach Hilfe. Um¬ ſonſt! Ihre Stimme drang nicht zu Clemens hin¬ auf, der hart an der Kluft vom Getöſe umgeben ſtand. Und das Haus war zu entfernt. Ein ſchnei¬ dendes Weh fuhr ihr durchs Herz, wie ſie da lag zwiſchen den Steinen, verlaſſen und hilflos; Thrä¬ nen der Verzweiflung im Auge, richtete ſie ſich müh¬ ſam auf. Was ihr das Liebſte war, ſchien ihr in dieſem Augenblicke haſſenswürdig, und die Bitterkeit in ihrem Innern ließ den Gedanken an die Nähe des Allgegenwärtigen nicht auftauchen. So fand ſie Clemens, der ſich um ihretwillen mit Gewalt von dem Zauber des mächtigen Bildes los¬ geriſſen hatte. „Ich komme“, rief er ihr ſchon von ferne ent¬ gegen. „Gut, daß du nicht mitgegangen! Der Platz oben iſt ſchmal und der kleinſte Fehltritt koſtet das Leben. Wie das endlos tief ſich hinunterſtürzt und rauſcht und in Wolken aufſprüht, daß einem alle Sinne vergehn. Fühl, wie es mich beſtäubt hat mit feinem Waſſerdunſt. Aber was iſt dir? Du biſt eiskalt und dein Mund zittert. Komm, es war un¬

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Zitationshilfe: Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855/42>, abgerufen am 27.11.2024.