Wänden standen. "Wie ist dir?" fragte er sie. -- "Mir ist wohl," war ihre Antwort heut wie immer.
"Komm", sagte er rasch, "lehn dich fester an; du bist noch matt. Es thäte dir gut, ein bischen Wie¬ senduft im Freien zu athmen, denn hier ist die Luft dick und schwer. Aber noch ist's nicht gesund, sagt der Doctor. Die Augen werden wund und erblin¬ den gar wieder, wenn sie zu früh ins Licht sehen. O, nun weiß ich schon, was Licht und Dunkel ist. Kein Flötenton ist so süß, als wenn es dir so weit ums Auge wird. Es that mir weh, muß ich sagen; doch hätt' ich immer so ins Bunte starren mögen; so selig war der Schmerz. Du wirst es auch erleben. Aber es ist noch mancher Tag zu überstehen, bis es uns so gut wird. Dann aber thu' ich den ganzen Tag nichts als sehen. Was ich wissen möchte, Mar¬ lene: sie sagen, jedes Ding habe eine andere Farbe. Was für Farben mag dein und mein Gesicht haben? dunkel oder hell? Es wäre garstig, wenn sie nicht recht schön hell wären. Ob ich dich wohl erkenne mit den Augen? Jetzt, so tastend, will ich dich mit meinem kleinen Finger unter allen Menschen heraus¬ finden. Aber hernach -- da haben wir uns ganz von neuem kennen zu lernen. Ich weiß jetzt, deine Wangen und deine Haare sind weich anzufühlen. -- Ob sie den Augen auch so sein mögen? Das wüßt' ich gern, und es ist noch so lange hin!"
Wänden ſtanden. „Wie iſt dir?“ fragte er ſie. — „Mir iſt wohl,“ war ihre Antwort heut wie immer.
„Komm“, ſagte er raſch, „lehn dich feſter an; du biſt noch matt. Es thäte dir gut, ein bischen Wie¬ ſenduft im Freien zu athmen, denn hier iſt die Luft dick und ſchwer. Aber noch iſt's nicht geſund, ſagt der Doctor. Die Augen werden wund und erblin¬ den gar wieder, wenn ſie zu früh ins Licht ſehen. O, nun weiß ich ſchon, was Licht und Dunkel iſt. Kein Flötenton iſt ſo ſüß, als wenn es dir ſo weit ums Auge wird. Es that mir weh, muß ich ſagen; doch hätt' ich immer ſo ins Bunte ſtarren mögen; ſo ſelig war der Schmerz. Du wirſt es auch erleben. Aber es iſt noch mancher Tag zu überſtehen, bis es uns ſo gut wird. Dann aber thu' ich den ganzen Tag nichts als ſehen. Was ich wiſſen möchte, Mar¬ lene: ſie ſagen, jedes Ding habe eine andere Farbe. Was für Farben mag dein und mein Geſicht haben? dunkel oder hell? Es wäre garſtig, wenn ſie nicht recht ſchön hell wären. Ob ich dich wohl erkenne mit den Augen? Jetzt, ſo taſtend, will ich dich mit meinem kleinen Finger unter allen Menſchen heraus¬ finden. Aber hernach — da haben wir uns ganz von neuem kennen zu lernen. Ich weiß jetzt, deine Wangen und deine Haare ſind weich anzufühlen. — Ob ſie den Augen auch ſo ſein mögen? Das wüßt' ich gern, und es iſt noch ſo lange hin!“
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0027"n="15"/>
Wänden ſtanden. „Wie iſt dir?“ fragte er ſie. —<lb/>„Mir iſt wohl,“ war ihre Antwort heut wie immer.</p><lb/><p>„Komm“, ſagte er raſch, „lehn dich feſter an; du<lb/>
biſt noch matt. Es thäte dir gut, ein bischen Wie¬<lb/>ſenduft im Freien zu athmen, denn hier iſt die Luft<lb/>
dick und ſchwer. Aber noch iſt's nicht geſund, ſagt<lb/>
der Doctor. Die Augen werden wund und erblin¬<lb/>
den gar wieder, wenn ſie zu früh ins Licht ſehen.<lb/>
O, nun weiß ich ſchon, was Licht und Dunkel iſt.<lb/>
Kein Flötenton iſt ſo ſüß, als wenn es dir ſo weit<lb/>
ums Auge wird. Es that mir weh, muß ich ſagen;<lb/>
doch hätt' ich immer ſo ins Bunte ſtarren mögen;<lb/>ſo ſelig war der Schmerz. Du wirſt es auch erleben.<lb/>
Aber es iſt noch mancher Tag zu überſtehen, bis es<lb/>
uns ſo gut wird. Dann aber thu' ich den ganzen<lb/>
Tag nichts als ſehen. Was ich wiſſen möchte, Mar¬<lb/>
lene: ſie ſagen, jedes Ding habe eine andere Farbe.<lb/>
Was für Farben mag dein und mein Geſicht haben?<lb/>
dunkel oder hell? Es wäre garſtig, wenn ſie nicht<lb/>
recht ſchön hell wären. Ob ich dich wohl erkenne<lb/>
mit den Augen? Jetzt, ſo taſtend, will ich dich mit<lb/>
meinem kleinen Finger unter allen Menſchen heraus¬<lb/>
finden. Aber hernach — da haben wir uns ganz<lb/>
von neuem kennen zu lernen. Ich weiß jetzt, deine<lb/>
Wangen und deine Haare ſind weich anzufühlen. —<lb/>
Ob ſie den Augen auch ſo ſein mögen? Das wüßt'<lb/>
ich gern, und es iſt noch ſo lange hin!“<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[15/0027]
Wänden ſtanden. „Wie iſt dir?“ fragte er ſie. —
„Mir iſt wohl,“ war ihre Antwort heut wie immer.
„Komm“, ſagte er raſch, „lehn dich feſter an; du
biſt noch matt. Es thäte dir gut, ein bischen Wie¬
ſenduft im Freien zu athmen, denn hier iſt die Luft
dick und ſchwer. Aber noch iſt's nicht geſund, ſagt
der Doctor. Die Augen werden wund und erblin¬
den gar wieder, wenn ſie zu früh ins Licht ſehen.
O, nun weiß ich ſchon, was Licht und Dunkel iſt.
Kein Flötenton iſt ſo ſüß, als wenn es dir ſo weit
ums Auge wird. Es that mir weh, muß ich ſagen;
doch hätt' ich immer ſo ins Bunte ſtarren mögen;
ſo ſelig war der Schmerz. Du wirſt es auch erleben.
Aber es iſt noch mancher Tag zu überſtehen, bis es
uns ſo gut wird. Dann aber thu' ich den ganzen
Tag nichts als ſehen. Was ich wiſſen möchte, Mar¬
lene: ſie ſagen, jedes Ding habe eine andere Farbe.
Was für Farben mag dein und mein Geſicht haben?
dunkel oder hell? Es wäre garſtig, wenn ſie nicht
recht ſchön hell wären. Ob ich dich wohl erkenne
mit den Augen? Jetzt, ſo taſtend, will ich dich mit
meinem kleinen Finger unter allen Menſchen heraus¬
finden. Aber hernach — da haben wir uns ganz
von neuem kennen zu lernen. Ich weiß jetzt, deine
Wangen und deine Haare ſind weich anzufühlen. —
Ob ſie den Augen auch ſo ſein mögen? Das wüßt'
ich gern, und es iſt noch ſo lange hin!“
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855/27>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.