Frauen, denen Gott schwere Gebrechen gegeben und genommen, das Märchen vom armen Heinrich, für den das fromme Mägdlein in ihrer Demuth sich hat opfern wollen, und wie Gott Alles herrlich hinaus¬ geführt habe, und was der würdige Pfarrer an er¬ baulichen Historien aufzutreiben wußte.
Wenn dann dem frommen Mann unvermerkt die Erzählung zum Gebet wurde, oder die Mutter mit ihrer klaren Stimme ein Danklied zu singen anhob, faltete Clemens auch die Hände und sang mit; aber gleich darauf warf er neue Fragen hin, die zeigten, daß er mehr Antheil an der Geschichte genommen, als am Gesang. Marlene fragte nie. Sie war freund¬ lich zu Jedermann, und Keiner ahnte, wie viele Ge¬ danken und Fragen in ihr arbeiteten.
Sichtbar genasen sie von Tag zu Tag, und schon am vierten nach der Operation erlaubte ihnen der Arzt aufzustehn. Er selber stützte das Mädchen, wie sie schwach und zitternd durch die finstere Kammer ging nach der offenen Thür, in der der Knabe stand und fröhlich seine suchenden Hände nach den ihren ausstreckte. Dann hielt er ihre Hand fest und bat sie, sich auf ihn zu stützen, was sie zutraulich that.
Sie schritten die Kammer auf und ab mit ein¬ ander, und er mit dem feinen Gefühl der Oertlich¬ keit, wie es Blinden eigen ist, geleitete sie behutsam an den Sesseln und Schränken vorüber, die an den
Frauen, denen Gott ſchwere Gebrechen gegeben und genommen, das Märchen vom armen Heinrich, für den das fromme Mägdlein in ihrer Demuth ſich hat opfern wollen, und wie Gott Alles herrlich hinaus¬ geführt habe, und was der würdige Pfarrer an er¬ baulichen Hiſtorien aufzutreiben wußte.
Wenn dann dem frommen Mann unvermerkt die Erzählung zum Gebet wurde, oder die Mutter mit ihrer klaren Stimme ein Danklied zu ſingen anhob, faltete Clemens auch die Hände und ſang mit; aber gleich darauf warf er neue Fragen hin, die zeigten, daß er mehr Antheil an der Geſchichte genommen, als am Geſang. Marlene fragte nie. Sie war freund¬ lich zu Jedermann, und Keiner ahnte, wie viele Ge¬ danken und Fragen in ihr arbeiteten.
Sichtbar genaſen ſie von Tag zu Tag, und ſchon am vierten nach der Operation erlaubte ihnen der Arzt aufzuſtehn. Er ſelber ſtützte das Mädchen, wie ſie ſchwach und zitternd durch die finſtere Kammer ging nach der offenen Thür, in der der Knabe ſtand und fröhlich ſeine ſuchenden Hände nach den ihren ausſtreckte. Dann hielt er ihre Hand feſt und bat ſie, ſich auf ihn zu ſtützen, was ſie zutraulich that.
Sie ſchritten die Kammer auf und ab mit ein¬ ander, und er mit dem feinen Gefühl der Oertlich¬ keit, wie es Blinden eigen iſt, geleitete ſie behutſam an den Seſſeln und Schränken vorüber, die an den
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0026"n="14"/>
Frauen, denen Gott ſchwere Gebrechen gegeben und<lb/>
genommen, das Märchen vom armen Heinrich, für<lb/>
den das fromme Mägdlein in ihrer Demuth ſich hat<lb/>
opfern wollen, und wie Gott Alles herrlich hinaus¬<lb/>
geführt habe, und was der würdige Pfarrer an er¬<lb/>
baulichen Hiſtorien aufzutreiben wußte.</p><lb/><p>Wenn dann dem frommen Mann unvermerkt die<lb/>
Erzählung zum Gebet wurde, oder die Mutter mit<lb/>
ihrer klaren Stimme ein Danklied zu ſingen anhob,<lb/>
faltete Clemens auch die Hände und ſang mit; aber<lb/>
gleich darauf warf er neue Fragen hin, die zeigten,<lb/>
daß er mehr Antheil an der Geſchichte genommen,<lb/>
als am Geſang. Marlene fragte nie. Sie war freund¬<lb/>
lich zu Jedermann, und Keiner ahnte, wie viele Ge¬<lb/>
danken und Fragen in ihr arbeiteten.</p><lb/><p>Sichtbar genaſen ſie von Tag zu Tag, und ſchon<lb/>
am vierten nach der Operation erlaubte ihnen der<lb/>
Arzt aufzuſtehn. Er ſelber ſtützte das Mädchen, wie<lb/>ſie ſchwach und zitternd durch die finſtere Kammer<lb/>
ging nach der offenen Thür, in der der Knabe ſtand<lb/>
und fröhlich ſeine ſuchenden Hände nach den ihren<lb/>
ausſtreckte. Dann hielt er ihre Hand feſt und bat<lb/>ſie, ſich auf ihn zu ſtützen, was ſie zutraulich that.</p><lb/><p>Sie ſchritten die Kammer auf und ab mit ein¬<lb/>
ander, und er mit dem feinen Gefühl der Oertlich¬<lb/>
keit, wie es Blinden eigen iſt, geleitete ſie behutſam<lb/>
an den Seſſeln und Schränken vorüber, die an den<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[14/0026]
Frauen, denen Gott ſchwere Gebrechen gegeben und
genommen, das Märchen vom armen Heinrich, für
den das fromme Mägdlein in ihrer Demuth ſich hat
opfern wollen, und wie Gott Alles herrlich hinaus¬
geführt habe, und was der würdige Pfarrer an er¬
baulichen Hiſtorien aufzutreiben wußte.
Wenn dann dem frommen Mann unvermerkt die
Erzählung zum Gebet wurde, oder die Mutter mit
ihrer klaren Stimme ein Danklied zu ſingen anhob,
faltete Clemens auch die Hände und ſang mit; aber
gleich darauf warf er neue Fragen hin, die zeigten,
daß er mehr Antheil an der Geſchichte genommen,
als am Geſang. Marlene fragte nie. Sie war freund¬
lich zu Jedermann, und Keiner ahnte, wie viele Ge¬
danken und Fragen in ihr arbeiteten.
Sichtbar genaſen ſie von Tag zu Tag, und ſchon
am vierten nach der Operation erlaubte ihnen der
Arzt aufzuſtehn. Er ſelber ſtützte das Mädchen, wie
ſie ſchwach und zitternd durch die finſtere Kammer
ging nach der offenen Thür, in der der Knabe ſtand
und fröhlich ſeine ſuchenden Hände nach den ihren
ausſtreckte. Dann hielt er ihre Hand feſt und bat
ſie, ſich auf ihn zu ſtützen, was ſie zutraulich that.
Sie ſchritten die Kammer auf und ab mit ein¬
ander, und er mit dem feinen Gefühl der Oertlich¬
keit, wie es Blinden eigen iſt, geleitete ſie behutſam
an den Seſſeln und Schränken vorüber, die an den
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855/26>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.