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Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855.

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Sobald sie oben in seiner Wohnung war, noch im
Dunkeln, setzte sie sich auf einen Stuhl hart neben
der Thür, ihr Bündel, das sie immer bei sich geführt,
auf dem Schoße vor sich. Er zündete Licht an und
sprach nicht mehr und wühlte in Papieren, mecha¬
nisch, ohne Zweck. Seine Seele brannte, wenn er
an Bianchi's That dachte; das entzückende Bewußt¬
sein, ihn so zu besitzen, wie diese Stunde ihn belehrt,
hielt ihn, wenn er an dem Gedanken, Marien ver¬
loren zu haben, fast vergehen wollte.

Indem er so in die Zukunft hinaussinnt und
sich bereitet, sein Schicksal auf sich zu nehmen, hört
er ein leises Athmen von der Thür her. Er sieht
auf und bemerkt, daß Caterina sich in festen Schlaf
geweint hat. Leise naht er ihrem Sitz. Das Haupt
ist ihr auf die Schulter gesunken, die Arme hangen
nieder, die Brust stürmt in ängstlichen Träumen.
Er hebt sie sicher und vorsichtig auf und trägt sie
mit kräftigen Armen auf ein Sopha, das an der
Wand steht. Wie er sie dort niederläßt, nähert sich
sein Gesicht ihrer Wange; er empfindet den gesunden
Hauch der Lippen, der Duft des Haares weht ihn
an, die Fülle der Glieder ruht blühend vor ihm.
Aber alles Verlangen schweigt in ihm. Er hebt sich
empor, breitet seinen Mantel über die Schlafende
und geht still in seine Kammer. Erst als die gerin¬

Sobald ſie oben in ſeiner Wohnung war, noch im
Dunkeln, ſetzte ſie ſich auf einen Stuhl hart neben
der Thür, ihr Bündel, das ſie immer bei ſich geführt,
auf dem Schoße vor ſich. Er zündete Licht an und
ſprach nicht mehr und wühlte in Papieren, mecha¬
niſch, ohne Zweck. Seine Seele brannte, wenn er
an Bianchi's That dachte; das entzückende Bewußt¬
ſein, ihn ſo zu beſitzen, wie dieſe Stunde ihn belehrt,
hielt ihn, wenn er an dem Gedanken, Marien ver¬
loren zu haben, faſt vergehen wollte.

Indem er ſo in die Zukunft hinausſinnt und
ſich bereitet, ſein Schickſal auf ſich zu nehmen, hört
er ein leiſes Athmen von der Thür her. Er ſieht
auf und bemerkt, daß Caterina ſich in feſten Schlaf
geweint hat. Leiſe naht er ihrem Sitz. Das Haupt
iſt ihr auf die Schulter geſunken, die Arme hangen
nieder, die Bruſt ſtürmt in ängſtlichen Träumen.
Er hebt ſie ſicher und vorſichtig auf und trägt ſie
mit kräftigen Armen auf ein Sopha, das an der
Wand ſteht. Wie er ſie dort niederläßt, nähert ſich
ſein Geſicht ihrer Wange; er empfindet den geſunden
Hauch der Lippen, der Duft des Haares weht ihn
an, die Fülle der Glieder ruht blühend vor ihm.
Aber alles Verlangen ſchweigt in ihm. Er hebt ſich
empor, breitet ſeinen Mantel über die Schlafende
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[215/0227] Sobald ſie oben in ſeiner Wohnung war, noch im Dunkeln, ſetzte ſie ſich auf einen Stuhl hart neben der Thür, ihr Bündel, das ſie immer bei ſich geführt, auf dem Schoße vor ſich. Er zündete Licht an und ſprach nicht mehr und wühlte in Papieren, mecha¬ niſch, ohne Zweck. Seine Seele brannte, wenn er an Bianchi's That dachte; das entzückende Bewußt¬ ſein, ihn ſo zu beſitzen, wie dieſe Stunde ihn belehrt, hielt ihn, wenn er an dem Gedanken, Marien ver¬ loren zu haben, faſt vergehen wollte. Indem er ſo in die Zukunft hinausſinnt und ſich bereitet, ſein Schickſal auf ſich zu nehmen, hört er ein leiſes Athmen von der Thür her. Er ſieht auf und bemerkt, daß Caterina ſich in feſten Schlaf geweint hat. Leiſe naht er ihrem Sitz. Das Haupt iſt ihr auf die Schulter geſunken, die Arme hangen nieder, die Bruſt ſtürmt in ängſtlichen Träumen. Er hebt ſie ſicher und vorſichtig auf und trägt ſie mit kräftigen Armen auf ein Sopha, das an der Wand ſteht. Wie er ſie dort niederläßt, nähert ſich ſein Geſicht ihrer Wange; er empfindet den geſunden Hauch der Lippen, der Duft des Haares weht ihn an, die Fülle der Glieder ruht blühend vor ihm. Aber alles Verlangen ſchweigt in ihm. Er hebt ſich empor, breitet ſeinen Mantel über die Schlafende und geht ſtill in ſeine Kammer. Erſt als die gerin¬

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Zitationshilfe: Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855/227>, abgerufen am 24.11.2024.