nun der Arzt im Schlosse ist, hoffe ich, daß ich noch ein ganzer Mann werden kann! Und dann gehe ich in die Welt, und jede Straße, die mir ansteht, und habe Keinem was nachzufragen."
"Auch mir nicht, Clemens!"
Sie sagte das ohne Klage und Vorwurf. Aber der Knabe erwiederte heftig: "Höre, Marlene! sprich nicht so Zeugs, was ich nicht leiden kann. Meinst du, ich würde dich allein zu Hause lassen und mich so fortstehlen in die Fremde? Traust du mir's zu?"
"Ich weiß wohl, wie es geht. Wenn die Bur¬ sche im Dorf zur Stadt müssen oder auf Wander¬ schaft, da geht Keins mit, auch nicht die eigene Schwe¬ ster. Und hier sogar, wenn sie noch unerwachsen sind, laufen die Knaben von den Mädchen weg, gehn in den Wald mit ihres gleichen und necken die Mäd¬ chen, wo sie ihnen begegnen. Bisher, da ließen sie dich mit mir zusammen, und wir spielten und lern¬ ten mit einander. Du warst blind wie ich; was woll¬ test du bei den andern Jungen? Aber wenn du sehen kannst und du wolltest bei mir im Haus sitzen, wür¬ den sie dir nachspotten, wie sie's Jedem thun, der's nicht mit ihnen hält. Und dann -- dann gehst du gar fort auf lange Zeit, und ich hatte mich so ganz an dich gewöhnt!"
Sie hatte die letzten Worte mit Mühe herausge¬ bracht; da übermannte sie die Angst und sie schluchzte
nun der Arzt im Schloſſe iſt, hoffe ich, daß ich noch ein ganzer Mann werden kann! Und dann gehe ich in die Welt, und jede Straße, die mir anſteht, und habe Keinem was nachzufragen.“
„Auch mir nicht, Clemens!“
Sie ſagte das ohne Klage und Vorwurf. Aber der Knabe erwiederte heftig: „Höre, Marlene! ſprich nicht ſo Zeugs, was ich nicht leiden kann. Meinſt du, ich würde dich allein zu Hauſe laſſen und mich ſo fortſtehlen in die Fremde? Trauſt du mir's zu?“
„Ich weiß wohl, wie es geht. Wenn die Bur¬ ſche im Dorf zur Stadt müſſen oder auf Wander¬ ſchaft, da geht Keins mit, auch nicht die eigene Schwe¬ ſter. Und hier ſogar, wenn ſie noch unerwachſen ſind, laufen die Knaben von den Mädchen weg, gehn in den Wald mit ihres gleichen und necken die Mäd¬ chen, wo ſie ihnen begegnen. Bisher, da ließen ſie dich mit mir zuſammen, und wir ſpielten und lern¬ ten mit einander. Du warſt blind wie ich; was woll¬ teſt du bei den andern Jungen? Aber wenn du ſehen kannſt und du wollteſt bei mir im Haus ſitzen, wür¬ den ſie dir nachſpotten, wie ſie's Jedem thun, der's nicht mit ihnen hält. Und dann — dann gehſt du gar fort auf lange Zeit, und ich hatte mich ſo ganz an dich gewöhnt!“
Sie hatte die letzten Worte mit Mühe herausge¬ bracht; da übermannte ſie die Angſt und ſie ſchluchzte
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[7/0019]
nun der Arzt im Schloſſe iſt, hoffe ich, daß ich noch
ein ganzer Mann werden kann! Und dann gehe ich
in die Welt, und jede Straße, die mir anſteht, und
habe Keinem was nachzufragen.“
„Auch mir nicht, Clemens!“
Sie ſagte das ohne Klage und Vorwurf. Aber
der Knabe erwiederte heftig: „Höre, Marlene! ſprich
nicht ſo Zeugs, was ich nicht leiden kann. Meinſt
du, ich würde dich allein zu Hauſe laſſen und mich
ſo fortſtehlen in die Fremde? Trauſt du mir's zu?“
„Ich weiß wohl, wie es geht. Wenn die Bur¬
ſche im Dorf zur Stadt müſſen oder auf Wander¬
ſchaft, da geht Keins mit, auch nicht die eigene Schwe¬
ſter. Und hier ſogar, wenn ſie noch unerwachſen ſind,
laufen die Knaben von den Mädchen weg, gehn in
den Wald mit ihres gleichen und necken die Mäd¬
chen, wo ſie ihnen begegnen. Bisher, da ließen ſie
dich mit mir zuſammen, und wir ſpielten und lern¬
ten mit einander. Du warſt blind wie ich; was woll¬
teſt du bei den andern Jungen? Aber wenn du ſehen
kannſt und du wollteſt bei mir im Haus ſitzen, wür¬
den ſie dir nachſpotten, wie ſie's Jedem thun, der's
nicht mit ihnen hält. Und dann — dann gehſt du
gar fort auf lange Zeit, und ich hatte mich ſo ganz
an dich gewöhnt!“
Sie hatte die letzten Worte mit Mühe herausge¬
bracht; da übermannte ſie die Angſt und ſie ſchluchzte
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Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855/19>, abgerufen am 16.07.2024.
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