Am offnen Fenster, das auf den kleinen Blumen¬ garten hinausging, stand die blinde Tochter des Dorf¬ küsters und erquickte sich am Winde, der über ihr heißes Gesicht flog. Die zarte, halbwüchsige Gestalt zitterte, die kalten Händchen lagen in einander auf dem Fenstersims. Die Sonne war schon hinab und die Nachtblumen fingen an zu duften.
Tiefer im Zimmer saß ein blinder Knabe auf einem Schemelchen an dem alten Spinett und spielte un¬ ruhige Melodieen. Er mochte fünfzehn Jahre alt sein und nur etwa um ein Jahr älter als das Mädchen. Wer ihn gehört und gesehen hätte, wie er die großen offnen Augen bald emporwandte, bald das Haupt nach dem Fenster neigte, hätte sein Gebrechen wohl nicht geahnt. So viel Sicherheit, ja Ungestüm lag in sei¬ nen Bewegungen.
Plötzlich brach er ab, mitten in einem geistlichen Liede, das er nach eignem Sinne verwildert zu haben schien.
"Du hast geseufzt, Marlene?" fragte er mit um¬ gewandtem Gesicht.
1 *
Erſtes Capitel.
Am offnen Fenſter, das auf den kleinen Blumen¬ garten hinausging, ſtand die blinde Tochter des Dorf¬ küſters und erquickte ſich am Winde, der über ihr heißes Geſicht flog. Die zarte, halbwüchſige Geſtalt zitterte, die kalten Händchen lagen in einander auf dem Fenſterſims. Die Sonne war ſchon hinab und die Nachtblumen fingen an zu duften.
Tiefer im Zimmer ſaß ein blinder Knabe auf einem Schemelchen an dem alten Spinett und ſpielte un¬ ruhige Melodieen. Er mochte fünfzehn Jahre alt ſein und nur etwa um ein Jahr älter als das Mädchen. Wer ihn gehört und geſehen hätte, wie er die großen offnen Augen bald emporwandte, bald das Haupt nach dem Fenſter neigte, hätte ſein Gebrechen wohl nicht geahnt. So viel Sicherheit, ja Ungeſtüm lag in ſei¬ nen Bewegungen.
Plötzlich brach er ab, mitten in einem geiſtlichen Liede, das er nach eignem Sinne verwildert zu haben ſchien.
„Du haſt geſeufzt, Marlene?“ fragte er mit um¬ gewandtem Geſicht.
1 *
<TEI><text><body><divn="1"><pbn="[3]"facs="#f0015"/><divn="2"><head><hirendition="#b">Erſtes Capitel.</hi><lb/></head><p><hirendition="#in">A</hi>m offnen Fenſter, das auf den kleinen Blumen¬<lb/>
garten hinausging, ſtand die blinde Tochter des Dorf¬<lb/>
küſters und erquickte ſich am Winde, der über ihr<lb/>
heißes Geſicht flog. Die zarte, halbwüchſige Geſtalt<lb/>
zitterte, die kalten Händchen lagen in einander auf dem<lb/>
Fenſterſims. Die Sonne war ſchon hinab und die<lb/>
Nachtblumen fingen an zu duften.</p><lb/><p>Tiefer im Zimmer ſaß ein blinder Knabe auf einem<lb/>
Schemelchen an dem alten Spinett und ſpielte un¬<lb/>
ruhige Melodieen. Er mochte fünfzehn Jahre alt ſein<lb/>
und nur etwa um ein Jahr älter als das Mädchen.<lb/>
Wer ihn gehört und geſehen hätte, wie er die großen<lb/>
offnen Augen bald emporwandte, bald das Haupt nach<lb/>
dem Fenſter neigte, hätte ſein Gebrechen wohl nicht<lb/>
geahnt. So viel Sicherheit, ja Ungeſtüm lag in ſei¬<lb/>
nen Bewegungen.</p><lb/><p>Plötzlich brach er ab, mitten in einem geiſtlichen<lb/>
Liede, das er nach eignem Sinne verwildert zu haben<lb/>ſchien.</p><lb/><p>„Du haſt geſeufzt, Marlene?“ fragte er mit um¬<lb/>
gewandtem Geſicht.</p><lb/><fwtype="sig"place="bottom">1 *<lb/></fw></div></div></body></text></TEI>
[[3]/0015]
Erſtes Capitel.
Am offnen Fenſter, das auf den kleinen Blumen¬
garten hinausging, ſtand die blinde Tochter des Dorf¬
küſters und erquickte ſich am Winde, der über ihr
heißes Geſicht flog. Die zarte, halbwüchſige Geſtalt
zitterte, die kalten Händchen lagen in einander auf dem
Fenſterſims. Die Sonne war ſchon hinab und die
Nachtblumen fingen an zu duften.
Tiefer im Zimmer ſaß ein blinder Knabe auf einem
Schemelchen an dem alten Spinett und ſpielte un¬
ruhige Melodieen. Er mochte fünfzehn Jahre alt ſein
und nur etwa um ein Jahr älter als das Mädchen.
Wer ihn gehört und geſehen hätte, wie er die großen
offnen Augen bald emporwandte, bald das Haupt nach
dem Fenſter neigte, hätte ſein Gebrechen wohl nicht
geahnt. So viel Sicherheit, ja Ungeſtüm lag in ſei¬
nen Bewegungen.
Plötzlich brach er ab, mitten in einem geiſtlichen
Liede, das er nach eignem Sinne verwildert zu haben
ſchien.
„Du haſt geſeufzt, Marlene?“ fragte er mit um¬
gewandtem Geſicht.
1 *
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855, S. [3]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855/15>, abgerufen am 03.03.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.