Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herzl, Theodor: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Leipzig u. a., 1896.

Bild:
<< vorherige Seite

Culturstufen dem jeweiligen allgemeinen Begriffsvermögen entsprechend
verschiedenartig formulirt. Gerichtet ist die Gestio
auf das Wohl des Dominus, des Volkes, zu dem ja auch der
Gestor selbst gehört.

Der Gestor verwaltet ein Gut, dessen Miteigenthümer er
ist. Aus seinem Miteigenthum schöpft er wohl die Kenntnis
des Nothstandes, der das Eingreifen, die Führung in Krieg und
Frieden erfordert; aber keineswegs gibt er sich als Miteigenthümer
selbst einen giltigen Auftrag. Er kann die Zustimmung
der unzähligen Miteigenthümer im günstigsten Falle nur vermuthen.

Der Staat entsteht durch den Daseinskampf eines Volkes.
In diesem Kampfe ist es nicht möglich, erst auf umständliche
Weise einen ordentlichen Auftrag einzuholen. Ja, es würde jede
Unternehmung für die Gesammtheit von vorneherein scheitern,
wenn man zuvor einen regelrechten Mehrheitsbeschluss erzielen
wollte. Die innere Parteiung würde das Volk gegen den äusseren
Nothstand wehrlos machen. Alle Köpfe sind nicht unter einen
Hut zu bringen, wie man gewöhnlich sagt. Darum setzt der
Gestor einfach den Hut auf und geht voran.

Der Staatsgestor ist genügend legitimirt, wenn die allgemeine
Sache in Gefahr und der Dominus durch Willensunfähigkeit
oder auf andere Art verhindert ist, sich selbst zu helfen.

Aber durch sein Eingreifen wird der Gestor dem Dominus
ähnlich wie aus einem Vertrage, quasi ex contractu, verpflichtet.
Das ist das vorbestandene oder richtiger: mitentstehende Rechtsverhältniss
im Staate.

Der Gestor muss dann für jede Fahrlässigkeit haften, auch
wegen verschuldeter Nichtvollendung der einmal übernommenen
Geschäfte und Versäumung dessen, was damit im wesentlichen
Zusammenhange steht u. s. w. Ich will die negotiorum gestio
hier nicht weiter ausführen und auf den Staat übertragen. Das
würde uns zu weit vom eigentlichen Gegenstande ablenken.
Nur das Eine sei noch angeführt: "Durch Genehmigung wird
die Geschäftsführung für den Geschäftsherrn in gleicher Art
wirksam, als wenn sie ursprünglich seinem Auftrag gemäss geschehen
wäre."

Und was bedeutet das Alles in unserem Falle?

Das Judenvolk ist gegenwärtig durch die Diaspora verhindert,
seine politischen Geschäfte selbst zu führen. Dabei ist
es auf verschiedenen Punkten in schwerer oder leichterer Bedrängniss.
Es braucht vor Allem einen Gestor.

Culturstufen dem jeweiligen allgemeinen Begriffsvermögen entsprechend
verschiedenartig formulirt. Gerichtet ist die Gestio
auf das Wohl des Dominus, des Volkes, zu dem ja auch der
Gestor selbst gehört.

Der Gestor verwaltet ein Gut, dessen Miteigenthümer er
ist. Aus seinem Miteigenthum schöpft er wohl die Kenntnis
des Nothstandes, der das Eingreifen, die Führung in Krieg und
Frieden erfordert; aber keineswegs gibt er sich als Miteigenthümer
selbst einen giltigen Auftrag. Er kann die Zustimmung
der unzähligen Miteigenthümer im günstigsten Falle nur vermuthen.

Der Staat entsteht durch den Daseinskampf eines Volkes.
In diesem Kampfe ist es nicht möglich, erst auf umständliche
Weise einen ordentlichen Auftrag einzuholen. Ja, es würde jede
Unternehmung für die Gesammtheit von vorneherein scheitern,
wenn man zuvor einen regelrechten Mehrheitsbeschluss erzielen
wollte. Die innere Parteiung würde das Volk gegen den äusseren
Nothstand wehrlos machen. Alle Köpfe sind nicht unter einen
Hut zu bringen, wie man gewöhnlich sagt. Darum setzt der
Gestor einfach den Hut auf und geht voran.

Der Staatsgestor ist genügend legitimirt, wenn die allgemeine
Sache in Gefahr und der Dominus durch Willensunfähigkeit
oder auf andere Art verhindert ist, sich selbst zu helfen.

Aber durch sein Eingreifen wird der Gestor dem Dominus
ähnlich wie aus einem Vertrage, quasi ex contractu, verpflichtet.
Das ist das vorbestandene oder richtiger: mitentstehende Rechtsverhältniss
im Staate.

Der Gestor muss dann für jede Fahrlässigkeit haften, auch
wegen verschuldeter Nichtvollendung der einmal übernommenen
Geschäfte und Versäumung dessen, was damit im wesentlichen
Zusammenhange steht u. s. w. Ich will die negotiorum gestio
hier nicht weiter ausführen und auf den Staat übertragen. Das
würde uns zu weit vom eigentlichen Gegenstande ablenken.
Nur das Eine sei noch angeführt: „Durch Genehmigung wird
die Geschäftsführung für den Geschäftsherrn in gleicher Art
wirksam, als wenn sie ursprünglich seinem Auftrag gemäss geschehen
wäre.“

Und was bedeutet das Alles in unserem Falle?

Das Judenvolk ist gegenwärtig durch die Diaspora verhindert,
seine politischen Geschäfte selbst zu führen. Dabei ist
es auf verschiedenen Punkten in schwerer oder leichterer Bedrängniss.
Es braucht vor Allem einen Gestor.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0069"/>
Culturstufen dem jeweiligen allgemeinen Begriffsvermögen entsprechend<lb/>
verschiedenartig formulirt. Gerichtet ist die Gestio<lb/>
auf das Wohl des Dominus, des Volkes, zu dem ja auch der<lb/>
Gestor selbst gehört.<lb/></p>
          <p>Der Gestor verwaltet ein Gut, dessen Miteigenthümer er<lb/>
ist. Aus seinem Miteigenthum schöpft er wohl die Kenntnis<lb/>
des Nothstandes, der das Eingreifen, die Führung in Krieg und<lb/>
Frieden erfordert; aber keineswegs gibt er sich als Miteigenthümer<lb/>
selbst einen giltigen Auftrag. Er kann die Zustimmung<lb/>
der unzähligen Miteigenthümer im günstigsten Falle nur vermuthen.<lb/></p>
          <p>Der Staat entsteht durch den Daseinskampf eines Volkes.<lb/>
In diesem Kampfe ist es nicht möglich, erst auf umständliche<lb/>
Weise einen ordentlichen Auftrag einzuholen. Ja, es würde jede<lb/>
Unternehmung für die Gesammtheit von vorneherein scheitern,<lb/>
wenn man zuvor einen regelrechten Mehrheitsbeschluss erzielen<lb/>
wollte. Die innere Parteiung würde das Volk gegen den äusseren<lb/>
Nothstand wehrlos machen. Alle Köpfe sind nicht unter einen<lb/>
Hut zu bringen, wie man gewöhnlich sagt. Darum setzt der<lb/>
Gestor einfach den Hut auf und geht voran.<lb/></p>
          <p>Der Staatsgestor ist genügend legitimirt, wenn die allgemeine<lb/>
Sache in Gefahr und der Dominus durch Willensunfähigkeit<lb/>
oder auf andere Art verhindert ist, sich selbst zu helfen.<lb/></p>
          <p>Aber durch sein Eingreifen wird der Gestor dem Dominus<lb/>
ähnlich wie aus einem Vertrage, quasi ex contractu, verpflichtet.<lb/>
Das ist das vorbestandene oder richtiger: mitentstehende Rechtsverhältniss<lb/>
im Staate.<lb/></p>
          <p>Der Gestor muss dann für jede Fahrlässigkeit haften, auch<lb/>
wegen verschuldeter Nichtvollendung der einmal übernommenen<lb/>
Geschäfte und Versäumung dessen, was damit im wesentlichen<lb/>
Zusammenhange steht u. s. w. Ich will die negotiorum gestio<lb/>
hier nicht weiter ausführen und auf den Staat übertragen. Das<lb/>
würde uns zu weit vom eigentlichen Gegenstande ablenken.<lb/>
Nur das Eine sei noch angeführt: &#x201E;Durch Genehmigung wird<lb/>
die Geschäftsführung für den Geschäftsherrn in gleicher Art<lb/>
wirksam, als wenn sie ursprünglich seinem Auftrag gemäss geschehen<lb/>
wäre.&#x201C;<lb/></p>
          <p>Und was bedeutet das Alles in unserem Falle?<lb/></p>
          <p>Das Judenvolk ist gegenwärtig durch die Diaspora verhindert,<lb/>
seine politischen Geschäfte selbst zu führen. Dabei ist<lb/>
es auf verschiedenen Punkten in schwerer oder leichterer Bedrängniss.<lb/>
Es braucht vor Allem einen Gestor.<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0069] Culturstufen dem jeweiligen allgemeinen Begriffsvermögen entsprechend verschiedenartig formulirt. Gerichtet ist die Gestio auf das Wohl des Dominus, des Volkes, zu dem ja auch der Gestor selbst gehört. Der Gestor verwaltet ein Gut, dessen Miteigenthümer er ist. Aus seinem Miteigenthum schöpft er wohl die Kenntnis des Nothstandes, der das Eingreifen, die Führung in Krieg und Frieden erfordert; aber keineswegs gibt er sich als Miteigenthümer selbst einen giltigen Auftrag. Er kann die Zustimmung der unzähligen Miteigenthümer im günstigsten Falle nur vermuthen. Der Staat entsteht durch den Daseinskampf eines Volkes. In diesem Kampfe ist es nicht möglich, erst auf umständliche Weise einen ordentlichen Auftrag einzuholen. Ja, es würde jede Unternehmung für die Gesammtheit von vorneherein scheitern, wenn man zuvor einen regelrechten Mehrheitsbeschluss erzielen wollte. Die innere Parteiung würde das Volk gegen den äusseren Nothstand wehrlos machen. Alle Köpfe sind nicht unter einen Hut zu bringen, wie man gewöhnlich sagt. Darum setzt der Gestor einfach den Hut auf und geht voran. Der Staatsgestor ist genügend legitimirt, wenn die allgemeine Sache in Gefahr und der Dominus durch Willensunfähigkeit oder auf andere Art verhindert ist, sich selbst zu helfen. Aber durch sein Eingreifen wird der Gestor dem Dominus ähnlich wie aus einem Vertrage, quasi ex contractu, verpflichtet. Das ist das vorbestandene oder richtiger: mitentstehende Rechtsverhältniss im Staate. Der Gestor muss dann für jede Fahrlässigkeit haften, auch wegen verschuldeter Nichtvollendung der einmal übernommenen Geschäfte und Versäumung dessen, was damit im wesentlichen Zusammenhange steht u. s. w. Ich will die negotiorum gestio hier nicht weiter ausführen und auf den Staat übertragen. Das würde uns zu weit vom eigentlichen Gegenstande ablenken. Nur das Eine sei noch angeführt: „Durch Genehmigung wird die Geschäftsführung für den Geschäftsherrn in gleicher Art wirksam, als wenn sie ursprünglich seinem Auftrag gemäss geschehen wäre.“ Und was bedeutet das Alles in unserem Falle? Das Judenvolk ist gegenwärtig durch die Diaspora verhindert, seine politischen Geschäfte selbst zu führen. Dabei ist es auf verschiedenen Punkten in schwerer oder leichterer Bedrängniss. Es braucht vor Allem einen Gestor.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

gutenberg.org: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in HTML. (2012-11-06T13:54:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus gutenberg.org entsprechen muss.
Austrian Literature Online: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-11-06T13:54:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von HTML nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-11-06T13:54:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen.
  • Der Zeilenfall wurde beibehalten, die Silbentrennung aber wurde aufgehoben.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herzl_judenstaat_1896
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herzl_judenstaat_1896/69
Zitationshilfe: Herzl, Theodor: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Leipzig u. a., 1896, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herzl_judenstaat_1896/69>, abgerufen am 22.11.2024.