Um Wiederholungen zu vermeiden, lasset uns die vorhergezeigte Menschengestalt in Hand- lung setzen, und wir werden gewahr, jedes Glied spreche und jemehr es seinem Zweck entspricht, um so vollkommener und schöner sei es. Bildet ei- nen Philosophen und gebet ihm eine Stirn, die nicht denkt, einen Herkules und senkt ihm keine Kraft zwischen die Augenbranen, noch in den Hals, noch in die Brust, noch in den ganzen Körper: eine Venus, und mit abscheulichem Pro- fil, hangenden Brüsten und hangendem Mun- de: einen Bacchus der Alten, wie er auf unsern Weinfässern sitzt; jedes gemeine Auge wird hier in Handlung fühlen, was ein feiner Sinn in den Gestalten an sich, auch ohne Handlung, ge- fühlt hätte, nehmlich, daß sie ihrem Zweck nicht entsprechen, daß eine Göttin der Liebe ohne Reiz, eine Diana ohne keusche Schnelle, ein Apollo ohne Jugendmuth und Stolz, ein Jupiter ohne Hoheit und Ehrfurcht abscheuliche Geschöpfe seyn. Was nun in einzelnen Charakteren und Hand- lungen zutrift, muß gesammlet auch allgemein wahr seyn: denn alles Allgemeine ist nur im Be- sondern, und nur aus allem Besondern wird das Allgemeine. Schönheit ist also nur immer Durchschein, Form, sinnlicher Ausdruck der Vollkommenheit zum Zwecke, wallendes Leben, Menschliche Gesundheit. Je mehr ein Glied be-
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Um Wiederholungen zu vermeiden, laſſet uns die vorhergezeigte Menſchengeſtalt in Hand- lung ſetzen, und wir werden gewahr, jedes Glied ſpreche und jemehr es ſeinem Zweck entſpricht, um ſo vollkommener und ſchoͤner ſei es. Bildet ei- nen Philoſophen und gebet ihm eine Stirn, die nicht denkt, einen Herkules und ſenkt ihm keine Kraft zwiſchen die Augenbranen, noch in den Hals, noch in die Bruſt, noch in den ganzen Koͤrper: eine Venus, und mit abſcheulichem Pro- fil, hangenden Bruͤſten und hangendem Mun- de: einen Bacchus der Alten, wie er auf unſern Weinfaͤſſern ſitzt; jedes gemeine Auge wird hier in Handlung fuͤhlen, was ein feiner Sinn in den Geſtalten an ſich, auch ohne Handlung, ge- fuͤhlt haͤtte, nehmlich, daß ſie ihrem Zweck nicht entſprechen, daß eine Goͤttin der Liebe ohne Reiz, eine Diana ohne keuſche Schnelle, ein Apollo ohne Jugendmuth und Stolz, ein Jupiter ohne Hoheit und Ehrfurcht abſcheuliche Geſchoͤpfe ſeyn. Was nun in einzelnen Charakteren und Hand- lungen zutrift, muß geſammlet auch allgemein wahr ſeyn: denn alles Allgemeine iſt nur im Be- ſondern, und nur aus allem Beſondern wird das Allgemeine. Schoͤnheit iſt alſo nur immer Durchſchein, Form, ſinnlicher Ausdruck der Vollkommenheit zum Zwecke, wallendes Leben, Menſchliche Geſundheit. Je mehr ein Glied be-
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Um Wiederholungen zu vermeiden, laſſet
uns die vorhergezeigte Menſchengeſtalt in Hand-
lung ſetzen, und wir werden gewahr, jedes Glied
ſpreche und jemehr es ſeinem Zweck entſpricht, um
ſo vollkommener und ſchoͤner ſei es. Bildet ei-
nen Philoſophen und gebet ihm eine Stirn, die
nicht denkt, einen Herkules und ſenkt ihm keine
Kraft zwiſchen die Augenbranen, noch in den
Hals, noch in die Bruſt, noch in den ganzen
Koͤrper: eine Venus, und mit abſcheulichem Pro-
fil, hangenden Bruͤſten und hangendem Mun-
de: einen Bacchus der Alten, wie er auf unſern
Weinfaͤſſern ſitzt; jedes gemeine Auge wird hier
in Handlung fuͤhlen, was ein feiner Sinn in
den Geſtalten an ſich, auch ohne Handlung, ge-
fuͤhlt haͤtte, nehmlich, daß ſie ihrem Zweck nicht
entſprechen, daß eine Goͤttin der Liebe ohne Reiz,
eine Diana ohne keuſche Schnelle, ein Apollo
ohne Jugendmuth und Stolz, ein Jupiter ohne
Hoheit und Ehrfurcht abſcheuliche Geſchoͤpfe ſeyn.
Was nun in einzelnen Charakteren und Hand-
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ſondern, und nur aus allem Beſondern wird das
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[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/94>, abgerufen am 22.07.2024.
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