und Seele. Zagend schwebt das Herz in seiner engen verdrückten Höle, glaubt jeden Augenblick zertreten zu werden und kriecht nach Speise und Verläumdung. Welcher Freund, der sein Haupt an diese Brust lehnen und sagen könnte: du bist mein Fels! welcher Hülflose Unterdrück- te, der sich an ihr aufrichten könnte und sagen: hier wohnt Zuflucht! Desto weiser aber sind wir im Haupt und geschäftig mit Mund und Fingern. --
Dem Weibe gab die Natur nicht Brust son- dern Busen, schlang also, da hier Quellen der Nothdurft und Liebe für den zarten Säugling seyn sollten, den Gürtel des Liebreizes um sie und machte, wie's ihre mütterliche Art ist, aus Nothdurft Wollust. Des Mannes Brust ist einförmiger, stärker, edler, vollkommen: der Busen des Weibes ward zarter, völliger, ge- waschen mit Milch der Unschuld und gekrönt mit der Rose der Liebe. So lange diese ein Knösp- chen blühet und der unreife Hügel zur Ernte wächst, schlang die Grazie der Jungfrauschaft ihren Gürtel um dieselbe, in der, nach der Be- schreibung jenes Dichters Liebe und Verlangen wohnen. Wenn der Trank der Unschuld berei- tet ist und der Unmündige an den Quellen der ersten Mutter- und Kindesfreude hanget, und seine kleine Hand sich an sie schmieget und tap-
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und Seele. Zagend ſchwebt das Herz in ſeiner engen verdruͤckten Hoͤle, glaubt jeden Augenblick zertreten zu werden und kriecht nach Speiſe und Verlaͤumdung. Welcher Freund, der ſein Haupt an dieſe Bruſt lehnen und ſagen koͤnnte: du biſt mein Fels! welcher Huͤlfloſe Unterdruͤck- te, der ſich an ihr aufrichten koͤnnte und ſagen: hier wohnt Zuflucht! Deſto weiſer aber ſind wir im Haupt und geſchaͤftig mit Mund und Fingern. —
Dem Weibe gab die Natur nicht Bruſt ſon- dern Buſen, ſchlang alſo, da hier Quellen der Nothdurft und Liebe fuͤr den zarten Saͤugling ſeyn ſollten, den Guͤrtel des Liebreizes um ſie und machte, wie’s ihre muͤtterliche Art iſt, aus Nothdurft Wolluſt. Des Mannes Bruſt iſt einfoͤrmiger, ſtaͤrker, edler, vollkommen: der Buſen des Weibes ward zarter, voͤlliger, ge- waſchen mit Milch der Unſchuld und gekroͤnt mit der Roſe der Liebe. So lange dieſe ein Knoͤſp- chen bluͤhet und der unreife Huͤgel zur Ernte waͤchſt, ſchlang die Grazie der Jungfrauſchaft ihren Guͤrtel um dieſelbe, in der, nach der Be- ſchreibung jenes Dichters Liebe und Verlangen wohnen. Wenn der Trank der Unſchuld berei- tet iſt und der Unmuͤndige an den Quellen der erſten Mutter- und Kindesfreude hanget, und ſeine kleine Hand ſich an ſie ſchmieget und tap-
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und Seele. Zagend ſchwebt das Herz in ſeiner
engen verdruͤckten Hoͤle, glaubt jeden Augenblick
zertreten zu werden und kriecht nach Speiſe und
Verlaͤumdung. Welcher Freund, der ſein
Haupt an dieſe Bruſt lehnen und ſagen koͤnnte:
du biſt mein Fels! welcher Huͤlfloſe Unterdruͤck-
te, der ſich an ihr aufrichten koͤnnte und ſagen:
hier wohnt Zuflucht! Deſto weiſer aber ſind
wir im Haupt und geſchaͤftig mit Mund und
Fingern. —
Dem Weibe gab die Natur nicht Bruſt ſon-
dern Buſen, ſchlang alſo, da hier Quellen der
Nothdurft und Liebe fuͤr den zarten Saͤugling
ſeyn ſollten, den Guͤrtel des Liebreizes um ſie
und machte, wie’s ihre muͤtterliche Art iſt, aus
Nothdurft Wolluſt. Des Mannes Bruſt iſt
einfoͤrmiger, ſtaͤrker, edler, vollkommen: der
Buſen des Weibes ward zarter, voͤlliger, ge-
waſchen mit Milch der Unſchuld und gekroͤnt mit
der Roſe der Liebe. So lange dieſe ein Knoͤſp-
chen bluͤhet und der unreife Huͤgel zur Ernte
waͤchſt, ſchlang die Grazie der Jungfrauſchaft
ihren Guͤrtel um dieſelbe, in der, nach der Be-
ſchreibung jenes Dichters Liebe und Verlangen
wohnen. Wenn der Trank der Unſchuld berei-
tet iſt und der Unmuͤndige an den Quellen der
erſten Mutter- und Kindesfreude hanget, und
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[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/88>, abgerufen am 16.02.2025.
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