Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite


Erster Abschnitt.


1.

Jener Blindgebohrne, den Diderot bemerk-
te a), stellte sich den Sinn des Gesichts
wie ein Organ vor, auf das die Luft etwa
den Eindruck mache, wie ihm ein Stab auf die
fühlende Hand. Ein Spiegel dünkte ihm eine
Maschiene, Körper im Relief außer sich zu wer-
fen, wobei er nicht begriff, wie dies Relief sich
nicht fühlen lasse, und glaubte, daß ein Mittel,
eine zweite Maschiene möglich seyn müsse, den
Betrug der ersten zu zeigen. Sein seines rich-
tiges Gefühl ersetzte ihm, in seiner Meinung, das
Gesicht völlig. Er unterschied bei der Härte und
Glätte eines Körpers nicht minder fein, als beim
Ton einer Stimme oder wir Sehenden bei Far-
ben. Er beneidete uns also auch unser Gesicht,
von dem er keine Vorstellung hatte, nicht; wars
ihm ja um eine Vermehrung seiner Sinne zu thun,
so wünschte er sich etwa längere Arme, um in
den Mond gewisser und sichrer zu fühlen, als wir
hinein sähen.

So
a) Lettre sur les aveugles etc.
A 3


Erſter Abſchnitt.


1.

Jener Blindgebohrne, den Diderot bemerk-
te a), ſtellte ſich den Sinn des Geſichts
wie ein Organ vor, auf das die Luft etwa
den Eindruck mache, wie ihm ein Stab auf die
fuͤhlende Hand. Ein Spiegel duͤnkte ihm eine
Maſchiene, Koͤrper im Relief außer ſich zu wer-
fen, wobei er nicht begriff, wie dies Relief ſich
nicht fuͤhlen laſſe, und glaubte, daß ein Mittel,
eine zweite Maſchiene moͤglich ſeyn muͤſſe, den
Betrug der erſten zu zeigen. Sein ſeines rich-
tiges Gefuͤhl erſetzte ihm, in ſeiner Meinung, das
Geſicht voͤllig. Er unterſchied bei der Haͤrte und
Glaͤtte eines Koͤrpers nicht minder fein, als beim
Ton einer Stimme oder wir Sehenden bei Far-
ben. Er beneidete uns alſo auch unſer Geſicht,
von dem er keine Vorſtellung hatte, nicht; wars
ihm ja um eine Vermehrung ſeiner Sinne zu thun,
ſo wuͤnſchte er ſich etwa laͤngere Arme, um in
den Mond gewiſſer und ſichrer zu fuͤhlen, als wir
hinein ſaͤhen.

So
a) Lettre ſur les aveugles etc.
A 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0008" n="[5]"/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b">Er&#x017F;ter Ab&#x017F;chnitt.</hi> </head><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <div n="2">
          <head>1.</head><lb/>
          <p><hi rendition="#in">J</hi>ener Blindgebohrne, den <hi rendition="#fr">Diderot</hi> bemerk-<lb/>
te <note place="foot" n="a)"><hi rendition="#aq">Lettre &#x017F;ur les aveugles etc.</hi></note>, &#x017F;tellte &#x017F;ich den Sinn des Ge&#x017F;ichts<lb/>
wie ein Organ vor, auf das die Luft etwa<lb/>
den Eindruck mache, wie ihm ein Stab auf die<lb/>
fu&#x0364;hlende Hand. Ein Spiegel du&#x0364;nkte ihm eine<lb/>
Ma&#x017F;chiene, Ko&#x0364;rper im Relief außer &#x017F;ich zu wer-<lb/>
fen, wobei er nicht begriff, wie dies Relief &#x017F;ich<lb/>
nicht fu&#x0364;hlen la&#x017F;&#x017F;e, und glaubte, daß ein Mittel,<lb/>
eine zweite Ma&#x017F;chiene mo&#x0364;glich &#x017F;eyn mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, den<lb/>
Betrug der er&#x017F;ten zu zeigen. Sein &#x017F;eines rich-<lb/>
tiges Gefu&#x0364;hl er&#x017F;etzte ihm, in &#x017F;einer Meinung, das<lb/>
Ge&#x017F;icht vo&#x0364;llig. Er unter&#x017F;chied bei der Ha&#x0364;rte und<lb/>
Gla&#x0364;tte eines Ko&#x0364;rpers nicht minder fein, als beim<lb/>
Ton einer Stimme oder wir Sehenden bei Far-<lb/>
ben. Er beneidete uns al&#x017F;o auch un&#x017F;er Ge&#x017F;icht,<lb/>
von dem er keine Vor&#x017F;tellung hatte, nicht; wars<lb/>
ihm ja um eine Vermehrung &#x017F;einer Sinne zu thun,<lb/>
&#x017F;o wu&#x0364;n&#x017F;chte er &#x017F;ich etwa la&#x0364;ngere Arme, um in<lb/>
den Mond gewi&#x017F;&#x017F;er und &#x017F;ichrer zu fu&#x0364;hlen, als wir<lb/>
hinein &#x017F;a&#x0364;hen.</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="sig">A 3</fw>
          <fw place="bottom" type="catch">So</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[5]/0008] Erſter Abſchnitt. 1. Jener Blindgebohrne, den Diderot bemerk- te a), ſtellte ſich den Sinn des Geſichts wie ein Organ vor, auf das die Luft etwa den Eindruck mache, wie ihm ein Stab auf die fuͤhlende Hand. Ein Spiegel duͤnkte ihm eine Maſchiene, Koͤrper im Relief außer ſich zu wer- fen, wobei er nicht begriff, wie dies Relief ſich nicht fuͤhlen laſſe, und glaubte, daß ein Mittel, eine zweite Maſchiene moͤglich ſeyn muͤſſe, den Betrug der erſten zu zeigen. Sein ſeines rich- tiges Gefuͤhl erſetzte ihm, in ſeiner Meinung, das Geſicht voͤllig. Er unterſchied bei der Haͤrte und Glaͤtte eines Koͤrpers nicht minder fein, als beim Ton einer Stimme oder wir Sehenden bei Far- ben. Er beneidete uns alſo auch unſer Geſicht, von dem er keine Vorſtellung hatte, nicht; wars ihm ja um eine Vermehrung ſeiner Sinne zu thun, ſo wuͤnſchte er ſich etwa laͤngere Arme, um in den Mond gewiſſer und ſichrer zu fuͤhlen, als wir hinein ſaͤhen. So a) Lettre ſur les aveugles etc. A 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/8
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. [5]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/8>, abgerufen am 18.12.2024.