als im schönen Anschein. Schöner Anschein kann manches werden, was gerade nicht schöne Form und die tiefgefühlte, treue, nackte Wahr- heit ist: zu dieser zu gelangen sind unstreitig jetzo viel weniger Mittel als voraus. Winkelmann hats unverbesserlich gesagt, was unter dem schönen Griechischen Himmel, in ihrer Frei- und Fröhlichkeit von Jugend auf, bei ihren unver- hülleten Tänzen, Kampf- und Wettspielen das Auge des Künstlers gewann. Nur die Formen können wir treu, ganz, wahr, lebendig geben, die sich uns also mittheilen, die durch den leben- digen Sinn in uns leben. Es ist bekannt, daß einige der größten neuern Mahler nur immer ihre geliebte Tochter, oder ihr Weib schilderten, un- streitig, weil sie nichts anders in Seele und Sin- nen besaßen. Raphael war reich an lebendigen Gestalten, weil seine Neigung, sein warmes Herz ihn hinriß und alle diese, erfühlt und genos- sen, sein eigen waren. Er gerieth dabei auf Abwege endete sich sein unersetzliches Leben -- und manche Trödelköpfe können es gar nicht be- greifen, wie der himmlische Raphael irrdische Mädchen geliebt habe? bekam er von ihnen nicht seine Umrisse, seine warmen lebendigen Formen; vom Himmel und kalten Statuen allein würde er sie nicht bekommen haben. Und doch war Ra- phael noch kein Praxiteles, kein Lisyppus, der
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als im ſchoͤnen Anſchein. Schoͤner Anſchein kann manches werden, was gerade nicht ſchoͤne Form und die tiefgefuͤhlte, treue, nackte Wahr- heit iſt: zu dieſer zu gelangen ſind unſtreitig jetzo viel weniger Mittel als voraus. Winkelmann hats unverbeſſerlich geſagt, was unter dem ſchoͤnen Griechiſchen Himmel, in ihrer Frei- und Froͤhlichkeit von Jugend auf, bei ihren unver- huͤlleten Taͤnzen, Kampf- und Wettſpielen das Auge des Kuͤnſtlers gewann. Nur die Formen koͤnnen wir treu, ganz, wahr, lebendig geben, die ſich uns alſo mittheilen, die durch den leben- digen Sinn in uns leben. Es iſt bekannt, daß einige der groͤßten neuern Mahler nur immer ihre geliebte Tochter, oder ihr Weib ſchilderten, un- ſtreitig, weil ſie nichts anders in Seele und Sin- nen beſaßen. Raphael war reich an lebendigen Geſtalten, weil ſeine Neigung, ſein warmes Herz ihn hinriß und alle dieſe, erfuͤhlt und genoſ- ſen, ſein eigen waren. Er gerieth dabei auf Abwege endete ſich ſein unerſetzliches Leben — und manche Troͤdelkoͤpfe koͤnnen es gar nicht be- greifen, wie der himmliſche Raphael irrdiſche Maͤdchen geliebt habe? bekam er von ihnen nicht ſeine Umriſſe, ſeine warmen lebendigen Formen; vom Himmel und kalten Statuen allein wuͤrde er ſie nicht bekommen haben. Und doch war Ra- phael noch kein Praxiteles, kein Liſyppus, der
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als im ſchoͤnen Anſchein. Schoͤner Anſchein
kann manches werden, was gerade nicht ſchoͤne
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heit iſt: zu dieſer zu gelangen ſind unſtreitig jetzo
viel weniger Mittel als voraus. Winkelmann
hats unverbeſſerlich geſagt, was unter dem
ſchoͤnen Griechiſchen Himmel, in ihrer Frei- und
Froͤhlichkeit von Jugend auf, bei ihren unver-
huͤlleten Taͤnzen, Kampf- und Wettſpielen das
Auge des Kuͤnſtlers gewann. Nur die Formen
koͤnnen wir treu, ganz, wahr, lebendig geben,
die ſich uns alſo mittheilen, die durch den leben-
digen Sinn in uns leben. Es iſt bekannt, daß
einige der groͤßten neuern Mahler nur immer ihre
geliebte Tochter, oder ihr Weib ſchilderten, un-
ſtreitig, weil ſie nichts anders in Seele und Sin-
nen beſaßen. Raphael war reich an lebendigen
Geſtalten, weil ſeine Neigung, ſein warmes
Herz ihn hinriß und alle dieſe, erfuͤhlt und genoſ-
ſen, ſein eigen waren. Er gerieth dabei auf
Abwege endete ſich ſein unerſetzliches Leben —
und manche Troͤdelkoͤpfe koͤnnen es gar nicht be-
greifen, wie der himmliſche Raphael irrdiſche
Maͤdchen geliebt habe? bekam er von ihnen nicht
ſeine Umriſſe, ſeine warmen lebendigen Formen;
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[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/44>, abgerufen am 16.02.2025.
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