griff den Sinn des Gesichts für seinen Ursprung und Oberrichter erkenne? das läßt sich nicht blos bezweifeln, sondern gerade verneinen. Lasset ein Geschöpf ganz Auge, ja einen Argus mit hun- dert Augen hundert Jahr eine Bildsäule besehen und von allen Seiten betrachten: ist er nicht ein Geschöpf, das Hand hat, das einst tasten und wenigstens sich selbst betasten konnte; ein Vogel- auge, ganz Schnabel, ganz Blick, ganz Fit- tig und Klaue, wird nie von diesem Dinge als Vogelansicht haben. Raum, Winkel, Form, Rundung lerne ich als solche in leibhafter Wahr- heit nicht durchs Gesicht erkennen; geschweige das Wesen dieser Kunst, schöne Form, schöne Bil- dung, die nicht Farbe, nicht Spiel der Propor- tion, der Symmetrie, des Lichtes und Schattens, sondern dargestellte, tastbare Wahrheit ist. Die schöne Linie, die hier immer ihre Bahn ver- ändert, sie, die nie gewaltsam unterbrochen, nie widrig vertrieben sich mit Pracht und Schöne um den Körper wälzet, und nimmer ruhend und im- mer fortschwebend in ihm den Guß, die Fülle, das sanft verblasene entzückende Leibhafte bildet, das nie von Fläche, nie von Ecke oder Winkel weiß; diese Linie kann so wenig Gesichtsfläche, so wenig Tafel und Kupferstich werden, daß gerade mit diesen Alles an ihr hin ist. Das Gesicht zer- stört die schöne Bildsäule, statt daß es sie schaffe:
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griff den Sinn des Geſichts fuͤr ſeinen Urſprung und Oberrichter erkenne? das laͤßt ſich nicht blos bezweifeln, ſondern gerade verneinen. Laſſet ein Geſchoͤpf ganz Auge, ja einen Argus mit hun- dert Augen hundert Jahr eine Bildſaͤule beſehen und von allen Seiten betrachten: iſt er nicht ein Geſchoͤpf, das Hand hat, das einſt taſten und wenigſtens ſich ſelbſt betaſten konnte; ein Vogel- auge, ganz Schnabel, ganz Blick, ganz Fit- tig und Klaue, wird nie von dieſem Dinge als Vogelanſicht haben. Raum, Winkel, Form, Rundung lerne ich als ſolche in leibhafter Wahr- heit nicht durchs Geſicht erkennen; geſchweige das Weſen dieſer Kunſt, ſchoͤne Form, ſchoͤne Bil- dung, die nicht Farbe, nicht Spiel der Propor- tion, der Symmetrie, des Lichtes und Schattens, ſondern dargeſtellte, taſtbare Wahrheit iſt. Die ſchoͤne Linie, die hier immer ihre Bahn ver- aͤndert, ſie, die nie gewaltſam unterbrochen, nie widrig vertrieben ſich mit Pracht und Schoͤne um den Koͤrper waͤlzet, und nimmer ruhend und im- mer fortſchwebend in ihm den Guß, die Fuͤlle, das ſanft verblaſene entzuͤckende Leibhafte bildet, das nie von Flaͤche, nie von Ecke oder Winkel weiß; dieſe Linie kann ſo wenig Geſichtsflaͤche, ſo wenig Tafel und Kupferſtich werden, daß gerade mit dieſen Alles an ihr hin iſt. Das Geſicht zer- ſtoͤrt die ſchoͤne Bildſaͤule, ſtatt daß es ſie ſchaffe:
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[19/0022]
griff den Sinn des Geſichts fuͤr ſeinen Urſprung
und Oberrichter erkenne? das laͤßt ſich nicht
blos bezweifeln, ſondern gerade verneinen. Laſſet
ein Geſchoͤpf ganz Auge, ja einen Argus mit hun-
dert Augen hundert Jahr eine Bildſaͤule beſehen
und von allen Seiten betrachten: iſt er nicht ein
Geſchoͤpf, das Hand hat, das einſt taſten und
wenigſtens ſich ſelbſt betaſten konnte; ein Vogel-
auge, ganz Schnabel, ganz Blick, ganz Fit-
tig und Klaue, wird nie von dieſem Dinge als
Vogelanſicht haben. Raum, Winkel, Form,
Rundung lerne ich als ſolche in leibhafter Wahr-
heit nicht durchs Geſicht erkennen; geſchweige das
Weſen dieſer Kunſt, ſchoͤne Form, ſchoͤne Bil-
dung, die nicht Farbe, nicht Spiel der Propor-
tion, der Symmetrie, des Lichtes und Schattens,
ſondern dargeſtellte, taſtbare Wahrheit iſt.
Die ſchoͤne Linie, die hier immer ihre Bahn ver-
aͤndert, ſie, die nie gewaltſam unterbrochen, nie
widrig vertrieben ſich mit Pracht und Schoͤne um
den Koͤrper waͤlzet, und nimmer ruhend und im-
mer fortſchwebend in ihm den Guß, die Fuͤlle,
das ſanft verblaſene entzuͤckende Leibhafte bildet,
das nie von Flaͤche, nie von Ecke oder Winkel
weiß; dieſe Linie kann ſo wenig Geſichtsflaͤche, ſo
wenig Tafel und Kupferſtich werden, daß gerade
mit dieſen Alles an ihr hin iſt. Das Geſicht zer-
ſtoͤrt die ſchoͤne Bildſaͤule, ſtatt daß es ſie ſchaffe:
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[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/22>, abgerufen am 22.07.2024.
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