Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite


Fünfter Abschnitt.


Jch fragte eine Blindgebohrne *): "welcher
"Tisch, welches Gefäß ihr lieber sei?
"das eckige oder runde"? Sie antwor-
tete: das Runde, den dies sei sanft und wohl zu
fassen, und am runden Tisch stoße man sich nicht.
Vielleicht ist dies Alles, was über die Linie der
Schönheit
so simpel gesagt werden kann.
"Warum ein runder Arm, eine schlanke Taille
"ihr wohlgefiele"? weil sie gesund, rege und leicht
ist. Gespenst stellte sie sich als einen kalten Hauch
vor, der sie verfolge, und Lieblichkeit suchte sie in
schöner vester Stimme, Zuthulichkeit, gefälligem
Duft und sanfter Wärme: gerade wie Saunder-
son und andre Beispiele. Jch reichte ihr eine
Statue, sie kannte und nannte jeden Theil und
fand ihn gut; als sie ans Kleid kam, stutzte sie
und wußte nicht, was es sei: denn es war die
erste Statue, die sie faßte. -- Sonst machte sie
mein Stand zu furchtsam, und die Entfernung ih-
res Orts, versagte mir weitere Nachforschung.
Sie hatte in ihrer Sprache alle Ausdrücke des

Sin-
*) Jm Jahr 1770.
H


Fuͤnfter Abſchnitt.


Jch fragte eine Blindgebohrne *): „welcher
„Tiſch, welches Gefaͤß ihr lieber ſei?
„das eckige oder runde„? Sie antwor-
tete: das Runde, den dies ſei ſanft und wohl zu
faſſen, und am runden Tiſch ſtoße man ſich nicht.
Vielleicht iſt dies Alles, was uͤber die Linie der
Schoͤnheit
ſo ſimpel geſagt werden kann.
„Warum ein runder Arm, eine ſchlanke Taille
„ihr wohlgefiele„? weil ſie geſund, rege und leicht
iſt. Geſpenſt ſtellte ſie ſich als einen kalten Hauch
vor, der ſie verfolge, und Lieblichkeit ſuchte ſie in
ſchoͤner veſter Stimme, Zuthulichkeit, gefaͤlligem
Duft und ſanfter Waͤrme: gerade wie Saunder-
ſon und andre Beiſpiele. Jch reichte ihr eine
Statue, ſie kannte und nannte jeden Theil und
fand ihn gut; als ſie ans Kleid kam, ſtutzte ſie
und wußte nicht, was es ſei: denn es war die
erſte Statue, die ſie faßte. — Sonſt machte ſie
mein Stand zu furchtſam, und die Entfernung ih-
res Orts, verſagte mir weitere Nachforſchung.
Sie hatte in ihrer Sprache alle Ausdruͤcke des

Sin-
*) Jm Jahr 1770.
H
<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0116" n="113"/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#g">Fu&#x0364;nfter Ab&#x017F;chnitt.</hi> </hi> </head><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <p><hi rendition="#in">J</hi>ch fragte eine Blindgebohrne <note place="foot" n="*)">Jm Jahr 1770.</note>: &#x201E;welcher<lb/>
&#x201E;Ti&#x017F;ch, welches Gefa&#x0364;ß ihr lieber &#x017F;ei?<lb/>
&#x201E;das eckige oder runde&#x201E;? Sie antwor-<lb/>
tete: das Runde, den dies &#x017F;ei &#x017F;anft und wohl zu<lb/>
fa&#x017F;&#x017F;en, und am runden Ti&#x017F;ch &#x017F;toße man &#x017F;ich nicht.<lb/>
Vielleicht i&#x017F;t dies Alles, was u&#x0364;ber die <hi rendition="#fr">Linie der<lb/>
Scho&#x0364;nheit</hi> &#x017F;o &#x017F;impel ge&#x017F;agt werden kann.<lb/>
&#x201E;Warum ein runder Arm, eine &#x017F;chlanke Taille<lb/>
&#x201E;ihr wohlgefiele&#x201E;? weil &#x017F;ie ge&#x017F;und, rege und leicht<lb/>
i&#x017F;t. Ge&#x017F;pen&#x017F;t &#x017F;tellte &#x017F;ie &#x017F;ich als einen kalten Hauch<lb/>
vor, der &#x017F;ie verfolge, und Lieblichkeit &#x017F;uchte &#x017F;ie in<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;ner ve&#x017F;ter Stimme, Zuthulichkeit, gefa&#x0364;lligem<lb/>
Duft und &#x017F;anfter Wa&#x0364;rme: gerade wie Saunder-<lb/>
&#x017F;on und andre Bei&#x017F;piele. Jch reichte ihr eine<lb/>
Statue, &#x017F;ie kannte und nannte jeden Theil und<lb/>
fand ihn <hi rendition="#fr">gut;</hi> als &#x017F;ie ans Kleid kam, &#x017F;tutzte &#x017F;ie<lb/>
und wußte nicht, was es &#x017F;ei: denn es war die<lb/>
er&#x017F;te Statue, die &#x017F;ie faßte. &#x2014; Son&#x017F;t machte &#x017F;ie<lb/>
mein Stand zu furcht&#x017F;am, und die Entfernung ih-<lb/>
res Orts, ver&#x017F;agte mir weitere Nachfor&#x017F;chung.<lb/>
Sie hatte in ihrer Sprache alle Ausdru&#x0364;cke des<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">H</fw><fw place="bottom" type="catch">Sin-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[113/0116] Fuͤnfter Abſchnitt. Jch fragte eine Blindgebohrne *): „welcher „Tiſch, welches Gefaͤß ihr lieber ſei? „das eckige oder runde„? Sie antwor- tete: das Runde, den dies ſei ſanft und wohl zu faſſen, und am runden Tiſch ſtoße man ſich nicht. Vielleicht iſt dies Alles, was uͤber die Linie der Schoͤnheit ſo ſimpel geſagt werden kann. „Warum ein runder Arm, eine ſchlanke Taille „ihr wohlgefiele„? weil ſie geſund, rege und leicht iſt. Geſpenſt ſtellte ſie ſich als einen kalten Hauch vor, der ſie verfolge, und Lieblichkeit ſuchte ſie in ſchoͤner veſter Stimme, Zuthulichkeit, gefaͤlligem Duft und ſanfter Waͤrme: gerade wie Saunder- ſon und andre Beiſpiele. Jch reichte ihr eine Statue, ſie kannte und nannte jeden Theil und fand ihn gut; als ſie ans Kleid kam, ſtutzte ſie und wußte nicht, was es ſei: denn es war die erſte Statue, die ſie faßte. — Sonſt machte ſie mein Stand zu furchtſam, und die Entfernung ih- res Orts, verſagte mir weitere Nachforſchung. Sie hatte in ihrer Sprache alle Ausdruͤcke des Sin- *) Jm Jahr 1770. H

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/116
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/116>, abgerufen am 27.11.2024.