Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774.

Bild:
<< vorherige Seite



ward man am Erdklos angeheftet! aber wie
viel Einrichtung entwickelte auch der Erd-
klos!
Er ist mir auf der Charte nichts als
Tafel voll Figuren, wo jeder Sinn entwickelt
hat: so original dies Land und seine Pro-
dukte,
so eine eigne Menschengattung! Der
menschliche Verstand hat viel in ihm gelernt,
und vielleicht ist keine Gegend der Erde, wo
dies Lernen so offenbar Kultur des Bodens
gewesen als hier. Sina ist noch sein Nach-
bild: man urtheile und errathe.

Auch hier wieder Thorheit, eine einzige
ägyptische Tugend
aus dem Lande, der Zeit
und dem Knabenalter des menschlichen Geistes
herauszureißen, und mit dem Maasstabe ei-
ner andern Zeit
zu messen! Konnte, wie ge-
zeigt, sich schon der Grieche so sehr am Aegyp-
ter irren und der Morgenländer den Aegypter
hassen: so dünkt mich, sollts doch erster Ge-
danke seyn, ihn blos auf seiner Stelle zu se-
hen, oder man sieht, zumal aus Europa her,
die verzogenste Fratze. Die Entwicklung ge-
schah aus Orient und der Kindheit herüber --
natürlich muste also noch immer Religion,
Furcht, Autorität, Despotismus
das Vehi-
kulum der Bildung
werden: denn auch mit

dem



ward man am Erdklos angeheftet! aber wie
viel Einrichtung entwickelte auch der Erd-
klos!
Er iſt mir auf der Charte nichts als
Tafel voll Figuren, wo jeder Sinn entwickelt
hat: ſo original dies Land und ſeine Pro-
dukte,
ſo eine eigne Menſchengattung! Der
menſchliche Verſtand hat viel in ihm gelernt,
und vielleicht iſt keine Gegend der Erde, wo
dies Lernen ſo offenbar Kultur des Bodens
geweſen als hier. Sina iſt noch ſein Nach-
bild: man urtheile und errathe.

Auch hier wieder Thorheit, eine einzige
aͤgyptiſche Tugend
aus dem Lande, der Zeit
und dem Knabenalter des menſchlichen Geiſtes
herauszureißen, und mit dem Maasſtabe ei-
ner andern Zeit
zu meſſen! Konnte, wie ge-
zeigt, ſich ſchon der Grieche ſo ſehr am Aegyp-
ter irren und der Morgenlaͤnder den Aegypter
haſſen: ſo duͤnkt mich, ſollts doch erſter Ge-
danke ſeyn, ihn blos auf ſeiner Stelle zu ſe-
hen, oder man ſieht, zumal aus Europa her,
die verzogenſte Fratze. Die Entwicklung ge-
ſchah aus Orient und der Kindheit heruͤber —
natuͤrlich muſte alſo noch immer Religion,
Furcht, Autoritaͤt, Deſpotismus
das Vehi-
kulum der Bildung
werden: denn auch mit

dem
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0028" n="24"/><fw place="top" type="header"><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/></fw> ward man am <hi rendition="#b">Erdklos angeheftet!</hi> aber wie<lb/>
viel Einrichtung entwickelte auch der <hi rendition="#b">Erd-<lb/>
klos!</hi> Er i&#x017F;t mir auf der Charte nichts als<lb/><hi rendition="#b">Tafel voll Figuren,</hi> wo jeder Sinn entwickelt<lb/>
hat: &#x017F;o original <hi rendition="#b">dies Land</hi> und &#x017F;eine <hi rendition="#b">Pro-<lb/>
dukte,</hi> &#x017F;o eine eigne <hi rendition="#b">Men&#x017F;chengattung!</hi> Der<lb/>
men&#x017F;chliche Ver&#x017F;tand hat viel in ihm gelernt,<lb/>
und vielleicht i&#x017F;t keine Gegend der Erde, wo<lb/>
dies Lernen &#x017F;o offenbar <hi rendition="#b">Kultur des Bodens</hi><lb/>
gewe&#x017F;en als hier. <hi rendition="#b">Sina</hi> i&#x017F;t noch &#x017F;ein Nach-<lb/>
bild: man urtheile und errathe.</p><lb/>
          <p>Auch hier wieder Thorheit, eine <hi rendition="#b">einzige<lb/>
a&#x0364;gypti&#x017F;che Tugend</hi> aus dem Lande, der Zeit<lb/>
und dem Knabenalter des men&#x017F;chlichen Gei&#x017F;tes<lb/>
herauszureißen, und mit dem <hi rendition="#b">Maas&#x017F;tabe ei-<lb/>
ner andern Zeit</hi> zu me&#x017F;&#x017F;en! Konnte, wie ge-<lb/>
zeigt, &#x017F;ich &#x017F;chon der Grieche &#x017F;o &#x017F;ehr am Aegyp-<lb/>
ter irren und der Morgenla&#x0364;nder den Aegypter<lb/>
ha&#x017F;&#x017F;en: &#x017F;o du&#x0364;nkt mich, &#x017F;ollts doch er&#x017F;ter Ge-<lb/>
danke &#x017F;eyn, ihn blos <hi rendition="#b">auf &#x017F;einer Stelle</hi> zu &#x017F;e-<lb/>
hen, oder man &#x017F;ieht, zumal aus Europa her,<lb/>
die verzogen&#x017F;te Fratze. Die Entwicklung ge-<lb/>
&#x017F;chah aus Orient und der Kindheit heru&#x0364;ber &#x2014;<lb/>
natu&#x0364;rlich mu&#x017F;te al&#x017F;o noch immer <hi rendition="#b">Religion,<lb/>
Furcht, Autorita&#x0364;t, De&#x017F;potismus</hi> das <hi rendition="#b">Vehi-<lb/>
kulum der Bildung</hi> werden: denn auch mit<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">dem</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[24/0028] ward man am Erdklos angeheftet! aber wie viel Einrichtung entwickelte auch der Erd- klos! Er iſt mir auf der Charte nichts als Tafel voll Figuren, wo jeder Sinn entwickelt hat: ſo original dies Land und ſeine Pro- dukte, ſo eine eigne Menſchengattung! Der menſchliche Verſtand hat viel in ihm gelernt, und vielleicht iſt keine Gegend der Erde, wo dies Lernen ſo offenbar Kultur des Bodens geweſen als hier. Sina iſt noch ſein Nach- bild: man urtheile und errathe. Auch hier wieder Thorheit, eine einzige aͤgyptiſche Tugend aus dem Lande, der Zeit und dem Knabenalter des menſchlichen Geiſtes herauszureißen, und mit dem Maasſtabe ei- ner andern Zeit zu meſſen! Konnte, wie ge- zeigt, ſich ſchon der Grieche ſo ſehr am Aegyp- ter irren und der Morgenlaͤnder den Aegypter haſſen: ſo duͤnkt mich, ſollts doch erſter Ge- danke ſeyn, ihn blos auf ſeiner Stelle zu ſe- hen, oder man ſieht, zumal aus Europa her, die verzogenſte Fratze. Die Entwicklung ge- ſchah aus Orient und der Kindheit heruͤber — natuͤrlich muſte alſo noch immer Religion, Furcht, Autoritaͤt, Deſpotismus das Vehi- kulum der Bildung werden: denn auch mit dem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/28
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/28>, abgerufen am 21.11.2024.