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[Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774.

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der kleine, enge, starkregsame, zusammenge-
drängte Schauplatz! die Einfalt der Zeiten,
Sitten
und des Nationalcharakters! die Be-
stimmtheit deiner Sphäre! -- Erdbürger

und nicht mehr Bürger zu Athen, fehlt dir
natürlich auch die Ansicht dessen, was du in
Athen thun sollt: das sichere Gefühl dessen,
was du thust: die Freudempfindung von dem,
was du ausgerichtet habest -- Dein Dämon!
Aber siehe! wenn du wie Sokrates handelst,
demüthig Vorurtheilen entgegen strebest,
aufrichtig, menschenliebend, dich selbst auf-
opfernd Wahrheit und Tugend ausbreitest,
wie du kannst -- Umfang deiner Sphäre er-
setzt vielleicht das Unbestimmtere und Verfeh-
lende
deines Beginnens! Dich werden hundert
lesen und nicht verstehen: hundert und gähnen:
hundert und verachten: hundert und lästern:
hundert, und die Drachenfesseln der Gewohn-
heit lieber haben und bleiben wer sie sind.
Aber bedenke, noch vielleicht hundert überblei-
ben, bey denen du fruchtest: wenn du lange
verweset bist, noch eine Nachwelt, die dich
lieset und besser anwendet. Welt und Nach-
welt
ist dein Athen! Rede!

Welt



der kleine, enge, ſtarkregſame, zuſammenge-
draͤngte Schauplatz! die Einfalt der Zeiten,
Sitten
und des Nationalcharakters! die Be-
ſtimmtheit deiner Sphaͤre! — Erdbuͤrger

und nicht mehr Buͤrger zu Athen, fehlt dir
natuͤrlich auch die Anſicht deſſen, was du in
Athen thun ſollt: das ſichere Gefuͤhl deſſen,
was du thuſt: die Freudempfindung von dem,
was du ausgerichtet habeſt — Dein Daͤmon!
Aber ſiehe! wenn du wie Sokrates handelſt,
demuͤthig Vorurtheilen entgegen ſtrebeſt,
aufrichtig, menſchenliebend, dich ſelbſt auf-
opfernd Wahrheit und Tugend ausbreiteſt,
wie du kannſt — Umfang deiner Sphaͤre er-
ſetzt vielleicht das Unbeſtimmtere und Verfeh-
lende
deines Beginnens! Dich werden hundert
leſen und nicht verſtehen: hundert und gaͤhnen:
hundert und verachten: hundert und laͤſtern:
hundert, und die Drachenfeſſeln der Gewohn-
heit lieber haben und bleiben wer ſie ſind.
Aber bedenke, noch vielleicht hundert uͤberblei-
ben, bey denen du fruchteſt: wenn du lange
verweſet biſt, noch eine Nachwelt, die dich
lieſet und beſſer anwendet. Welt und Nach-
welt
iſt dein Athen! Rede!

Welt
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[158/0162] der kleine, enge, ſtarkregſame, zuſammenge- draͤngte Schauplatz! die Einfalt der Zeiten, Sitten und des Nationalcharakters! die Be- ſtimmtheit deiner Sphaͤre! — Erdbuͤrger und nicht mehr Buͤrger zu Athen, fehlt dir natuͤrlich auch die Anſicht deſſen, was du in Athen thun ſollt: das ſichere Gefuͤhl deſſen, was du thuſt: die Freudempfindung von dem, was du ausgerichtet habeſt — Dein Daͤmon! Aber ſiehe! wenn du wie Sokrates handelſt, demuͤthig Vorurtheilen entgegen ſtrebeſt, aufrichtig, menſchenliebend, dich ſelbſt auf- opfernd Wahrheit und Tugend ausbreiteſt, wie du kannſt — Umfang deiner Sphaͤre er- ſetzt vielleicht das Unbeſtimmtere und Verfeh- lende deines Beginnens! Dich werden hundert leſen und nicht verſtehen: hundert und gaͤhnen: hundert und verachten: hundert und laͤſtern: hundert, und die Drachenfeſſeln der Gewohn- heit lieber haben und bleiben wer ſie ſind. Aber bedenke, noch vielleicht hundert uͤberblei- ben, bey denen du fruchteſt: wenn du lange verweſet biſt, noch eine Nachwelt, die dich lieſet und beſſer anwendet. Welt und Nach- welt iſt dein Athen! Rede! Welt

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/162>, abgerufen am 24.11.2024.