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[Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774.

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Saamenkorn, wenns Sprößling, kein zar-
ter Sprößling mehr, wenns Baum ist. Ue-
ber dem Stamm ist Krone; wenn jeder Ast,
jeder Zweig derselben Stamm und Wurzel
seyn wollte -- wo bliebe der Baum? Ori-
entalier, Griechen, Römer
waren nur ein-
mal in der Welt; sollten die elektrische Kette,
die das Schicksal zog, nur in Einem Punkte,
auf Einer Stelle berühren! -- Wir also,
wenn wir Orientalier, Griechen, Römer auf Ein-
mal
seyn wollen, sind wir zuverläßig Nichts.

"Jn Europa soll jetzt mehr Tugend seyn,
"als je in aller Welt gewesen?" Und warum,
weil mehr Aufklärung darinn ist -- ich glau-
be, daß eben deshalb weniger seyn müsse.

Was ists, wenn man auch nur die Schmeich-
ler ihres Jahrhunderts frägt, was ist diese
mehrere Tugend Europa's, durch Aufklä-
rung? -- "Aufklärung!"
Wir wissen jetzt
"so vielmehr, hören, lesen so viel, daß wir so
"ruhig, gedultig, sanftmüthig, unthätig
"sind. -- Freylich -- freylich -- zwar --
"und auch das noch; aber bey allem bleibt
"doch der Grund unsrer Herzen immer so weich!"
Ewige Süßler, das heißt alles ja, wir sind

dort



Saamenkorn, wenns Sproͤßling, kein zar-
ter Sproͤßling mehr, wenns Baum iſt. Ue-
ber dem Stamm iſt Krone; wenn jeder Aſt,
jeder Zweig derſelben Stamm und Wurzel
ſeyn wollte — wo bliebe der Baum? Ori-
entalier, Griechen, Roͤmer
waren nur ein-
mal in der Welt; ſollten die elektriſche Kette,
die das Schickſal zog, nur in Einem Punkte,
auf Einer Stelle beruͤhren! — Wir alſo,
wenn wir Orientalier, Griechen, Roͤmer auf Ein-
mal
ſeyn wollen, ſind wir zuverlaͤßig Nichts.

„Jn Europa ſoll jetzt mehr Tugend ſeyn,
„als je in aller Welt geweſen?„ Und warum,
weil mehr Aufklaͤrung darinn iſt — ich glau-
be, daß eben deshalb weniger ſeyn muͤſſe.

Was iſts, wenn man auch nur die Schmeich-
ler ihres Jahrhunderts fraͤgt, was iſt dieſe
mehrere Tugend Europa’s, durch Aufklaͤ-
rung? — „Aufklaͤrung!„
Wir wiſſen jetzt
„ſo vielmehr, hoͤren, leſen ſo viel, daß wir ſo
ruhig, gedultig, ſanftmuͤthig, unthaͤtig
„ſind. — Freylich — freylich — zwar —
„und auch das noch; aber bey allem bleibt
„doch der Grund unſrer Herzen immer ſo weich!
Ewige Suͤßler, das heißt alles ja, wir ſind

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[134/0138] Saamenkorn, wenns Sproͤßling, kein zar- ter Sproͤßling mehr, wenns Baum iſt. Ue- ber dem Stamm iſt Krone; wenn jeder Aſt, jeder Zweig derſelben Stamm und Wurzel ſeyn wollte — wo bliebe der Baum? Ori- entalier, Griechen, Roͤmer waren nur ein- mal in der Welt; ſollten die elektriſche Kette, die das Schickſal zog, nur in Einem Punkte, auf Einer Stelle beruͤhren! — Wir alſo, wenn wir Orientalier, Griechen, Roͤmer auf Ein- mal ſeyn wollen, ſind wir zuverlaͤßig Nichts. „Jn Europa ſoll jetzt mehr Tugend ſeyn, „als je in aller Welt geweſen?„ Und warum, weil mehr Aufklaͤrung darinn iſt — ich glau- be, daß eben deshalb weniger ſeyn muͤſſe. Was iſts, wenn man auch nur die Schmeich- ler ihres Jahrhunderts fraͤgt, was iſt dieſe mehrere Tugend Europa’s, durch Aufklaͤ- rung? — „Aufklaͤrung!„ Wir wiſſen jetzt „ſo vielmehr, hoͤren, leſen ſo viel, daß wir ſo „ruhig, gedultig, ſanftmuͤthig, unthaͤtig „ſind. — Freylich — freylich — zwar — „und auch das noch; aber bey allem bleibt „doch der Grund unſrer Herzen immer ſo weich!„ Ewige Suͤßler, das heißt alles ja, wir ſind dort

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/138>, abgerufen am 23.11.2024.