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[Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774.

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man den Acker nicht besäet, bepflanzet, son-
dern als Kornboden überschütten muß --
dürrer, trockner Kornboden! kann etwas
wurzeln? aufgehen?
kommt ein Korn nur
in die Erde?

Was soll ich Exempel zu einer Wahrheit su-
chen, zu der fast alles leider! Exempel wä-
re -- Religion und Moral, Gesetzgebung
und gemeine Sitten. Wie überschwemmt
mit schönen Grundsätzen, Entwicklungen,
Systemen, Auslegungen
-- überschwemmet,
daß fast niemand mehr Boden sieht und Fuß
hat -- eben deßwegen aber auch nur hinüber-
schwimmet.
Der Theologe blättert in den
rührendsten Darstellungen der Religion, ler-
net, weiß, beweißt
und vergißt: -- zu den
Theologen werden wir alle von Kind auf ge-
bildet. Die Kanzel schallet von Grundsätzen,
die wir alle zugestehen, wissen, schön fühlen,
und -- auf und neben der Kanzel lassen. So
mit Lektüre, Philosophie und Moral. Wer
ist nicht überdrüssig sie zu lesen? und welcher
Schriftsteller machts nicht schon zum Haupt-
geschäfte, gut einzukleiden: die unkräftige
Pille nur schön zu versilbern. Kopf und Herz
ist einmal getrennt: der Mensch ist leider! so

weit,



man den Acker nicht beſaͤet, bepflanzet, ſon-
dern als Kornboden uͤberſchuͤtten muß —
duͤrrer, trockner Kornboden! kann etwas
wurzeln? aufgehen?
kommt ein Korn nur
in die Erde?

Was ſoll ich Exempel zu einer Wahrheit ſu-
chen, zu der faſt alles leider! Exempel waͤ-
re — Religion und Moral, Geſetzgebung
und gemeine Sitten. Wie uͤberſchwemmt
mit ſchoͤnen Grundſaͤtzen, Entwicklungen,
Syſtemen, Auslegungen
— uͤberſchwemmet,
daß faſt niemand mehr Boden ſieht und Fuß
hat — eben deßwegen aber auch nur hinuͤber-
ſchwimmet.
Der Theologe blaͤttert in den
ruͤhrendſten Darſtellungen der Religion, ler-
net, weiß, beweißt
und vergißt: — zu den
Theologen werden wir alle von Kind auf ge-
bildet. Die Kanzel ſchallet von Grundſaͤtzen,
die wir alle zugeſtehen, wiſſen, ſchoͤn fuͤhlen,
und — auf und neben der Kanzel laſſen. So
mit Lektuͤre, Philoſophie und Moral. Wer
iſt nicht uͤberdruͤſſig ſie zu leſen? und welcher
Schriftſteller machts nicht ſchon zum Haupt-
geſchaͤfte, gut einzukleiden: die unkraͤftige
Pille nur ſchoͤn zu verſilbern. Kopf und Herz
iſt einmal getrennt: der Menſch iſt leider! ſo

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[110/0114] man den Acker nicht beſaͤet, bepflanzet, ſon- dern als Kornboden uͤberſchuͤtten muß — duͤrrer, trockner Kornboden! kann etwas wurzeln? aufgehen? kommt ein Korn nur in die Erde? Was ſoll ich Exempel zu einer Wahrheit ſu- chen, zu der faſt alles leider! Exempel waͤ- re — Religion und Moral, Geſetzgebung und gemeine Sitten. Wie uͤberſchwemmt mit ſchoͤnen Grundſaͤtzen, Entwicklungen, Syſtemen, Auslegungen — uͤberſchwemmet, daß faſt niemand mehr Boden ſieht und Fuß hat — eben deßwegen aber auch nur hinuͤber- ſchwimmet. Der Theologe blaͤttert in den ruͤhrendſten Darſtellungen der Religion, ler- net, weiß, beweißt und vergißt: — zu den Theologen werden wir alle von Kind auf ge- bildet. Die Kanzel ſchallet von Grundſaͤtzen, die wir alle zugeſtehen, wiſſen, ſchoͤn fuͤhlen, und — auf und neben der Kanzel laſſen. So mit Lektuͤre, Philoſophie und Moral. Wer iſt nicht uͤberdruͤſſig ſie zu leſen? und welcher Schriftſteller machts nicht ſchon zum Haupt- geſchaͤfte, gut einzukleiden: die unkraͤftige Pille nur ſchoͤn zu verſilbern. Kopf und Herz iſt einmal getrennt: der Menſch iſt leider! ſo weit,

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/114>, abgerufen am 22.11.2024.