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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

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Sprache nicht so dreust urtheilen, als andre.
Wäre ich ein lateinischer Dichter; mir wür-
de jenes Virgilianische Mistrauen eindrücklich
seyn: "Auch mich nennen die Hirten einen
"Dichter; aber so leicht glaube ich ihnen
"nicht; noch scheinen mir meine Arbeiten
"nicht eines Varus oder Cinna würdig;
"vielleicht klingt mein Gesang, wie unter
"Schwänen das Schnattern der Gänse."

Gewinnt der Ausdruck, daß ich doch Latei-
nisch einen Lateiner besser nachahmen kann,
als Deutsch? Es scheint! aber was heißt
besser nachahmen? Mit seinen eignen
Worten;
das heißt, Grammatisch! Aus-
drücke zusammen fädeln, ist alsdenn blos
Handwerk; und da ich mich doch wieder nicht
in das Wörterbuch eines Schriftstellers ein-
kerkern kann, ohne äußersten Zwang, so muß
ich wieder fürchten, selbst in der Schreibart
ungleich zu werden. -- Aber nachahmen, um
den Ton eines Alten zu lernen? Diese
Nachahmung ist schon höher, und eine Arbeit
des Geistes. Wenn man einen Autor mit
dem Feuer lieset, mit dem er geschrieben hat,
so muß er uns so beseelen, daß wir eine Zeit-

lang
F 5

Sprache nicht ſo dreuſt urtheilen, als andre.
Waͤre ich ein lateiniſcher Dichter; mir wuͤr-
de jenes Virgilianiſche Mistrauen eindruͤcklich
ſeyn: „Auch mich nennen die Hirten einen
„Dichter; aber ſo leicht glaube ich ihnen
„nicht; noch ſcheinen mir meine Arbeiten
„nicht eines Varus oder Cinna wuͤrdig;
„vielleicht klingt mein Geſang, wie unter
„Schwaͤnen das Schnattern der Gaͤnſe.„

Gewinnt der Ausdruck, daß ich doch Latei-
niſch einen Lateiner beſſer nachahmen kann,
als Deutſch? Es ſcheint! aber was heißt
beſſer nachahmen? Mit ſeinen eignen
Worten;
das heißt, Grammatiſch! Aus-
druͤcke zuſammen faͤdeln, iſt alsdenn blos
Handwerk; und da ich mich doch wieder nicht
in das Woͤrterbuch eines Schriftſtellers ein-
kerkern kann, ohne aͤußerſten Zwang, ſo muß
ich wieder fuͤrchten, ſelbſt in der Schreibart
ungleich zu werden. — Aber nachahmen, um
den Ton eines Alten zu lernen? Dieſe
Nachahmung iſt ſchon hoͤher, und eine Arbeit
des Geiſtes. Wenn man einen Autor mit
dem Feuer lieſet, mit dem er geſchrieben hat,
ſo muß er uns ſo beſeelen, daß wir eine Zeit-

lang
F 5
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[89/0097] Sprache nicht ſo dreuſt urtheilen, als andre. Waͤre ich ein lateiniſcher Dichter; mir wuͤr- de jenes Virgilianiſche Mistrauen eindruͤcklich ſeyn: „Auch mich nennen die Hirten einen „Dichter; aber ſo leicht glaube ich ihnen „nicht; noch ſcheinen mir meine Arbeiten „nicht eines Varus oder Cinna wuͤrdig; „vielleicht klingt mein Geſang, wie unter „Schwaͤnen das Schnattern der Gaͤnſe.„ Gewinnt der Ausdruck, daß ich doch Latei- niſch einen Lateiner beſſer nachahmen kann, als Deutſch? Es ſcheint! aber was heißt beſſer nachahmen? Mit ſeinen eignen Worten; das heißt, Grammatiſch! Aus- druͤcke zuſammen faͤdeln, iſt alsdenn blos Handwerk; und da ich mich doch wieder nicht in das Woͤrterbuch eines Schriftſtellers ein- kerkern kann, ohne aͤußerſten Zwang, ſo muß ich wieder fuͤrchten, ſelbſt in der Schreibart ungleich zu werden. — Aber nachahmen, um den Ton eines Alten zu lernen? Dieſe Nachahmung iſt ſchon hoͤher, und eine Arbeit des Geiſtes. Wenn man einen Autor mit dem Feuer lieſet, mit dem er geſchrieben hat, ſo muß er uns ſo beſeelen, daß wir eine Zeit- lang F 5

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/97>, abgerufen am 28.11.2024.