Sprache nicht so dreust urtheilen, als andre. Wäre ich ein lateinischer Dichter; mir wür- de jenes Virgilianische Mistrauen eindrücklich seyn: "Auch mich nennen die Hirten einen "Dichter; aber so leicht glaube ich ihnen "nicht; noch scheinen mir meine Arbeiten "nicht eines Varus oder Cinna würdig; "vielleicht klingt mein Gesang, wie unter "Schwänen das Schnattern der Gänse."
Gewinnt der Ausdruck, daß ich doch Latei- nisch einen Lateiner besser nachahmen kann, als Deutsch? Es scheint! aber was heißt besser nachahmen? Mit seinen eignen Worten; das heißt, Grammatisch! Aus- drücke zusammen fädeln, ist alsdenn blos Handwerk; und da ich mich doch wieder nicht in das Wörterbuch eines Schriftstellers ein- kerkern kann, ohne äußersten Zwang, so muß ich wieder fürchten, selbst in der Schreibart ungleich zu werden. -- Aber nachahmen, um den Ton eines Alten zu lernen? Diese Nachahmung ist schon höher, und eine Arbeit des Geistes. Wenn man einen Autor mit dem Feuer lieset, mit dem er geschrieben hat, so muß er uns so beseelen, daß wir eine Zeit-
lang
F 5
Sprache nicht ſo dreuſt urtheilen, als andre. Waͤre ich ein lateiniſcher Dichter; mir wuͤr- de jenes Virgilianiſche Mistrauen eindruͤcklich ſeyn: „Auch mich nennen die Hirten einen „Dichter; aber ſo leicht glaube ich ihnen „nicht; noch ſcheinen mir meine Arbeiten „nicht eines Varus oder Cinna wuͤrdig; „vielleicht klingt mein Geſang, wie unter „Schwaͤnen das Schnattern der Gaͤnſe.„
Gewinnt der Ausdruck, daß ich doch Latei- niſch einen Lateiner beſſer nachahmen kann, als Deutſch? Es ſcheint! aber was heißt beſſer nachahmen? Mit ſeinen eignen Worten; das heißt, Grammatiſch! Aus- druͤcke zuſammen faͤdeln, iſt alsdenn blos Handwerk; und da ich mich doch wieder nicht in das Woͤrterbuch eines Schriftſtellers ein- kerkern kann, ohne aͤußerſten Zwang, ſo muß ich wieder fuͤrchten, ſelbſt in der Schreibart ungleich zu werden. — Aber nachahmen, um den Ton eines Alten zu lernen? Dieſe Nachahmung iſt ſchon hoͤher, und eine Arbeit des Geiſtes. Wenn man einen Autor mit dem Feuer lieſet, mit dem er geſchrieben hat, ſo muß er uns ſo beſeelen, daß wir eine Zeit-
lang
F 5
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><p><pbfacs="#f0097"n="89"/>
Sprache nicht ſo dreuſt urtheilen, als andre.<lb/>
Waͤre ich ein lateiniſcher Dichter; mir wuͤr-<lb/>
de jenes Virgilianiſche Mistrauen eindruͤcklich<lb/>ſeyn: „Auch mich nennen die Hirten einen<lb/>„Dichter; aber ſo leicht glaube ich ihnen<lb/>„nicht; noch ſcheinen mir meine Arbeiten<lb/>„nicht eines <hirendition="#fr">Varus</hi> oder <hirendition="#fr">Cinna</hi> wuͤrdig;<lb/>„vielleicht klingt mein Geſang, wie unter<lb/>„Schwaͤnen das Schnattern der Gaͤnſe.„</p><lb/><p>Gewinnt der Ausdruck, daß ich doch Latei-<lb/>
niſch einen Lateiner beſſer nachahmen kann,<lb/>
als Deutſch? Es ſcheint! aber was heißt<lb/><hirendition="#fr">beſſer nachahmen?</hi> Mit <hirendition="#fr">ſeinen eignen<lb/>
Worten;</hi> das heißt, Grammatiſch! Aus-<lb/>
druͤcke zuſammen faͤdeln, iſt alsdenn blos<lb/>
Handwerk; und da ich mich doch wieder nicht<lb/>
in das Woͤrterbuch <hirendition="#fr">eines Schriftſtellers</hi> ein-<lb/>
kerkern kann, ohne aͤußerſten Zwang, ſo muß<lb/>
ich wieder fuͤrchten, ſelbſt in der Schreibart<lb/>
ungleich zu werden. — Aber nachahmen, um<lb/><hirendition="#fr">den Ton eines Alten</hi> zu lernen? Dieſe<lb/>
Nachahmung iſt ſchon hoͤher, und eine Arbeit<lb/>
des Geiſtes. Wenn man einen Autor mit<lb/>
dem Feuer lieſet, mit dem er geſchrieben hat,<lb/>ſo muß er uns ſo beſeelen, daß wir eine Zeit-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">F 5</fw><fwplace="bottom"type="catch">lang</fw><lb/></p></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[89/0097]
Sprache nicht ſo dreuſt urtheilen, als andre.
Waͤre ich ein lateiniſcher Dichter; mir wuͤr-
de jenes Virgilianiſche Mistrauen eindruͤcklich
ſeyn: „Auch mich nennen die Hirten einen
„Dichter; aber ſo leicht glaube ich ihnen
„nicht; noch ſcheinen mir meine Arbeiten
„nicht eines Varus oder Cinna wuͤrdig;
„vielleicht klingt mein Geſang, wie unter
„Schwaͤnen das Schnattern der Gaͤnſe.„
Gewinnt der Ausdruck, daß ich doch Latei-
niſch einen Lateiner beſſer nachahmen kann,
als Deutſch? Es ſcheint! aber was heißt
beſſer nachahmen? Mit ſeinen eignen
Worten; das heißt, Grammatiſch! Aus-
druͤcke zuſammen faͤdeln, iſt alsdenn blos
Handwerk; und da ich mich doch wieder nicht
in das Woͤrterbuch eines Schriftſtellers ein-
kerkern kann, ohne aͤußerſten Zwang, ſo muß
ich wieder fuͤrchten, ſelbſt in der Schreibart
ungleich zu werden. — Aber nachahmen, um
den Ton eines Alten zu lernen? Dieſe
Nachahmung iſt ſchon hoͤher, und eine Arbeit
des Geiſtes. Wenn man einen Autor mit
dem Feuer lieſet, mit dem er geſchrieben hat,
ſo muß er uns ſo beſeelen, daß wir eine Zeit-
lang
F 5
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/97>, abgerufen am 28.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.