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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

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gewachsene Misgeburt, die mit einem Haupt
lachte, mit dem andern weinte, mit dem
Rücken an einander stieß, sich fortzerrete,
und auf einer Stelle blieb.

Wahrlich! der Dichter muß seinem Boden
getreu bleiben, der über den Ausdruck herr-
schen will: Hieher kann er Machtwörter pflan-
zen, denn er kennet das Land: Hier kann er
Blumen pflücken; denn die Erde ist sein;
hier kann er in die Tiefe graben, und Gold
suchen, und Berge aufführen, und Ströme
leiten: denn er ist Hausherr. Die wahre
Laune drucket sich blos in der Muttersprache
ab, und ich schäme mich nicht, die Schwäche
meiner Seele zu gestehen, daß ich mir Le-
benslang nicht zutraue, mehr als eine ein-
zige
Sprache vollkommen fassen zu können:
ich meine aber unter dem Wort vollkommen
so viel, daß drei junge Herren, die vor mir
stehen, und mir Französisch, Jtaliänisch und
Englisch, und drei Schulmeister, die mir
Lateinisch und Griechisch und Koptisch, mit
großer Geläufigkeit vorsprächen, mich noch
nicht wiederlegten. Jch würde jedem Glück
wünschen, daß er vielleicht in drei Sprachen

nichts
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gewachſene Misgeburt, die mit einem Haupt
lachte, mit dem andern weinte, mit dem
Ruͤcken an einander ſtieß, ſich fortzerrete,
und auf einer Stelle blieb.

Wahrlich! der Dichter muß ſeinem Boden
getreu bleiben, der uͤber den Ausdruck herr-
ſchen will: Hieher kann er Machtwoͤrter pflan-
zen, denn er kennet das Land: Hier kann er
Blumen pfluͤcken; denn die Erde iſt ſein;
hier kann er in die Tiefe graben, und Gold
ſuchen, und Berge auffuͤhren, und Stroͤme
leiten: denn er iſt Hausherr. Die wahre
Laune drucket ſich blos in der Mutterſprache
ab, und ich ſchaͤme mich nicht, die Schwaͤche
meiner Seele zu geſtehen, daß ich mir Le-
benslang nicht zutraue, mehr als eine ein-
zige
Sprache vollkommen faſſen zu koͤnnen:
ich meine aber unter dem Wort vollkommen
ſo viel, daß drei junge Herren, die vor mir
ſtehen, und mir Franzoͤſiſch, Jtaliaͤniſch und
Engliſch, und drei Schulmeiſter, die mir
Lateiniſch und Griechiſch und Koptiſch, mit
großer Gelaͤufigkeit vorſpraͤchen, mich noch
nicht wiederlegten. Jch wuͤrde jedem Gluͤck
wuͤnſchen, daß er vielleicht in drei Sprachen

nichts
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[85/0093] gewachſene Misgeburt, die mit einem Haupt lachte, mit dem andern weinte, mit dem Ruͤcken an einander ſtieß, ſich fortzerrete, und auf einer Stelle blieb. Wahrlich! der Dichter muß ſeinem Boden getreu bleiben, der uͤber den Ausdruck herr- ſchen will: Hieher kann er Machtwoͤrter pflan- zen, denn er kennet das Land: Hier kann er Blumen pfluͤcken; denn die Erde iſt ſein; hier kann er in die Tiefe graben, und Gold ſuchen, und Berge auffuͤhren, und Stroͤme leiten: denn er iſt Hausherr. Die wahre Laune drucket ſich blos in der Mutterſprache ab, und ich ſchaͤme mich nicht, die Schwaͤche meiner Seele zu geſtehen, daß ich mir Le- benslang nicht zutraue, mehr als eine ein- zige Sprache vollkommen faſſen zu koͤnnen: ich meine aber unter dem Wort vollkommen ſo viel, daß drei junge Herren, die vor mir ſtehen, und mir Franzoͤſiſch, Jtaliaͤniſch und Engliſch, und drei Schulmeiſter, die mir Lateiniſch und Griechiſch und Koptiſch, mit großer Gelaͤufigkeit vorſpraͤchen, mich noch nicht wiederlegten. Jch wuͤrde jedem Gluͤck wuͤnſchen, daß er vielleicht in drei Sprachen nichts F 3

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/93>, abgerufen am 28.11.2024.