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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

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heuren Gestalt zeigen: schreibe ich in meiner
Sprache, so stößt er sich selbst in einen Aus-
druck dahin; aber in einer fremden Sprache
wird er vielleicht ein Barbarismus, bei dem
die Ohren gellen. Dieser neue Gedanke
drängt sich in meiner eignen Sprache in alle
sein Licht, daß er gesehen werden muß un-
ter einem fremden Volk hat er nicht die Frei-
heit, oder paaret sich vielleicht mit einem
derben Solöcismus. Dieser fruchtbare Ge-
danke will mit allen seinen Nebenbegriffen auf
einmal in die Seele: meine Muttersprache
steht ihm mit ihrer ganzen Fülle zu Gebot;
aber in einer todten Sprache muß er betteln,
trift vielleicht arme Hütten an, und wird bei
reichen Pallästen zurückgewiesen, oder heraus-
gestoßen. Kurz! seiner Seele den Zügel,
und den Gedanken den Lauf lassen, ohne auf
eine bekannte und sichere Mutter Erde sich
verlassen zu können; macht mißrathene Schrift-
steller, die in einer Gegend sich verirren, in
die sie nicht zu Hause gehören; der Gedanke
war groß, aber unförmlich sein Ausdruck.

Das ist doch gewiß, daß eine todte Spra-
che, die ich nach Regeln der Grammatik

lerne,

heuren Geſtalt zeigen: ſchreibe ich in meiner
Sprache, ſo ſtoͤßt er ſich ſelbſt in einen Aus-
druck dahin; aber in einer fremden Sprache
wird er vielleicht ein Barbariſmus, bei dem
die Ohren gellen. Dieſer neue Gedanke
draͤngt ſich in meiner eignen Sprache in alle
ſein Licht, daß er geſehen werden muß un-
ter einem fremden Volk hat er nicht die Frei-
heit, oder paaret ſich vielleicht mit einem
derben Soloͤciſmus. Dieſer fruchtbare Ge-
danke will mit allen ſeinen Nebenbegriffen auf
einmal in die Seele: meine Mutterſprache
ſteht ihm mit ihrer ganzen Fuͤlle zu Gebot;
aber in einer todten Sprache muß er betteln,
trift vielleicht arme Huͤtten an, und wird bei
reichen Pallaͤſten zuruͤckgewieſen, oder heraus-
geſtoßen. Kurz! ſeiner Seele den Zuͤgel,
und den Gedanken den Lauf laſſen, ohne auf
eine bekannte und ſichere Mutter Erde ſich
verlaſſen zu koͤnnen; macht mißrathene Schrift-
ſteller, die in einer Gegend ſich verirren, in
die ſie nicht zu Hauſe gehoͤren; der Gedanke
war groß, aber unfoͤrmlich ſein Ausdruck.

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che, die ich nach Regeln der Grammatik

lerne,
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[82/0090] heuren Geſtalt zeigen: ſchreibe ich in meiner Sprache, ſo ſtoͤßt er ſich ſelbſt in einen Aus- druck dahin; aber in einer fremden Sprache wird er vielleicht ein Barbariſmus, bei dem die Ohren gellen. Dieſer neue Gedanke draͤngt ſich in meiner eignen Sprache in alle ſein Licht, daß er geſehen werden muß un- ter einem fremden Volk hat er nicht die Frei- heit, oder paaret ſich vielleicht mit einem derben Soloͤciſmus. Dieſer fruchtbare Ge- danke will mit allen ſeinen Nebenbegriffen auf einmal in die Seele: meine Mutterſprache ſteht ihm mit ihrer ganzen Fuͤlle zu Gebot; aber in einer todten Sprache muß er betteln, trift vielleicht arme Huͤtten an, und wird bei reichen Pallaͤſten zuruͤckgewieſen, oder heraus- geſtoßen. Kurz! ſeiner Seele den Zuͤgel, und den Gedanken den Lauf laſſen, ohne auf eine bekannte und ſichere Mutter Erde ſich verlaſſen zu koͤnnen; macht mißrathene Schrift- ſteller, die in einer Gegend ſich verirren, in die ſie nicht zu Hauſe gehoͤren; der Gedanke war groß, aber unfoͤrmlich ſein Ausdruck. Das iſt doch gewiß, daß eine todte Spra- che, die ich nach Regeln der Grammatik lerne,

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/90>, abgerufen am 28.11.2024.