Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

Bild:
<< vorherige Seite

tauschen, reise ich unter fremde Völker; nicht
um das Bürgerrecht meines Vaterlandes zu
verlieren, werde ich ein naturalisirter Frem-
der: denn sonst verliere ich mehr, als ich ge-
winne. Sondern ich gehe blos durch fremde
Gärten, um für meine Sprache, als eine
Verlobte meiner Denkart, Blumen zu holen:
ich sehe fremde Sitten, um die meinigen, wie
Früchte, die eine fremde Sonne gereift hat,
dem Genius meines Vaterlandes zu opfern.
Wenn ich mich meiner Heimath entziehe, und
mich in fremden Sprachen weide, ahme ich
Kleists Bienen nach,

- - - die in zerstreueten Heeren,
Die Luft durchsäuseln, und fallen auf Klee und
blühende Stauden
Und denn heimkehren zur Zelle mit süßer Beute
beladen
und liefern uns Honig der Weisheit.

Jch sezze zwei Schriftsteller zusammen, von
denen der eine in seiner Sprache, der an-
dere in einer fremden todten Sprache schreibt:
wer von ihnen kann größer werden?

Zuerst der in einer fremden Sprache
schreibt, muß doch eine Muttersprache haben,

in

tauſchen, reiſe ich unter fremde Voͤlker; nicht
um das Buͤrgerrecht meines Vaterlandes zu
verlieren, werde ich ein naturaliſirter Frem-
der: denn ſonſt verliere ich mehr, als ich ge-
winne. Sondern ich gehe blos durch fremde
Gaͤrten, um fuͤr meine Sprache, als eine
Verlobte meiner Denkart, Blumen zu holen:
ich ſehe fremde Sitten, um die meinigen, wie
Fruͤchte, die eine fremde Sonne gereift hat,
dem Genius meines Vaterlandes zu opfern.
Wenn ich mich meiner Heimath entziehe, und
mich in fremden Sprachen weide, ahme ich
Kleiſts Bienen nach,

‒ ‒ ‒ die in zerſtreueten Heeren,
Die Luft durchſaͤuſeln, und fallen auf Klee und
bluͤhende Stauden
Und denn heimkehren zur Zelle mit ſuͤßer Beute
beladen
und liefern uns Honig der Weisheit.

Jch ſezze zwei Schriftſteller zuſammen, von
denen der eine in ſeiner Sprache, der an-
dere in einer fremden todten Sprache ſchreibt:
wer von ihnen kann groͤßer werden?

Zuerſt der in einer fremden Sprache
ſchreibt, muß doch eine Mutterſprache haben,

in
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0086" n="78"/>
tau&#x017F;chen, rei&#x017F;e ich unter fremde Vo&#x0364;lker; nicht<lb/>
um das Bu&#x0364;rgerrecht meines Vaterlandes zu<lb/>
verlieren, werde ich ein naturali&#x017F;irter Frem-<lb/>
der: denn &#x017F;on&#x017F;t verliere ich mehr, als ich ge-<lb/>
winne. Sondern ich gehe blos durch fremde<lb/>
Ga&#x0364;rten, um fu&#x0364;r meine Sprache, als eine<lb/>
Verlobte meiner Denkart, Blumen zu holen:<lb/>
ich &#x017F;ehe fremde Sitten, um die meinigen, wie<lb/>
Fru&#x0364;chte, die eine fremde Sonne gereift hat,<lb/>
dem Genius meines Vaterlandes zu opfern.<lb/>
Wenn ich mich meiner Heimath entziehe, und<lb/>
mich in fremden Sprachen weide, ahme ich<lb/>
Klei&#x017F;ts Bienen nach,</p><lb/>
                <lg type="poem">
                  <l>&#x2012; &#x2012; &#x2012; die in zer&#x017F;treueten Heeren,</l><lb/>
                  <l>Die Luft durch&#x017F;a&#x0364;u&#x017F;eln, und fallen auf Klee und</l><lb/>
                  <l> <hi rendition="#et">blu&#x0364;hende Stauden</hi> </l><lb/>
                  <l>Und denn heimkehren zur Zelle mit &#x017F;u&#x0364;ßer Beute</l><lb/>
                  <l> <hi rendition="#et">beladen</hi> </l><lb/>
                  <l>und liefern uns Honig der Weisheit.</l>
                </lg><lb/>
                <p>Jch &#x017F;ezze zwei Schrift&#x017F;teller zu&#x017F;ammen, von<lb/>
denen der eine in <hi rendition="#fr">&#x017F;einer Sprache,</hi> der an-<lb/>
dere in einer fremden todten Sprache &#x017F;chreibt:<lb/>
wer von ihnen kann gro&#x0364;ßer werden?</p><lb/>
                <p><hi rendition="#fr">Zuer&#x017F;t</hi> der in einer fremden Sprache<lb/>
&#x017F;chreibt, muß doch eine Mutter&#x017F;prache haben,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">in</fw><lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[78/0086] tauſchen, reiſe ich unter fremde Voͤlker; nicht um das Buͤrgerrecht meines Vaterlandes zu verlieren, werde ich ein naturaliſirter Frem- der: denn ſonſt verliere ich mehr, als ich ge- winne. Sondern ich gehe blos durch fremde Gaͤrten, um fuͤr meine Sprache, als eine Verlobte meiner Denkart, Blumen zu holen: ich ſehe fremde Sitten, um die meinigen, wie Fruͤchte, die eine fremde Sonne gereift hat, dem Genius meines Vaterlandes zu opfern. Wenn ich mich meiner Heimath entziehe, und mich in fremden Sprachen weide, ahme ich Kleiſts Bienen nach, ‒ ‒ ‒ die in zerſtreueten Heeren, Die Luft durchſaͤuſeln, und fallen auf Klee und bluͤhende Stauden Und denn heimkehren zur Zelle mit ſuͤßer Beute beladen und liefern uns Honig der Weisheit. Jch ſezze zwei Schriftſteller zuſammen, von denen der eine in ſeiner Sprache, der an- dere in einer fremden todten Sprache ſchreibt: wer von ihnen kann groͤßer werden? Zuerſt der in einer fremden Sprache ſchreibt, muß doch eine Mutterſprache haben, in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/86
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/86>, abgerufen am 25.11.2024.