findet, weil es mit dem Urbilde übereinstim- met, zu dem sie sich formte -- so ist auch die Muttersprache selbst mit ihren Jdiotismen voll Eigensinn, und mit ihren kleinen Schwach- heiten der Liebe für uns ein Bild der Schön- heit. So wie ein Kind alle Bilder und neue Begriffe mit dem vergleicht, was es schon wußte: so passet unser Geist insgeheim alle Mundarten der Muttersprache an: sie behält er auf der Zunge, um nachher desto tiefer in den Unterschied der Sprachen einzudringen: sie behält er im Auge, um wenn er dort Lü- cken und Wüsten; hier Reichthum und Ueber- fluß in fremden Sprachen entdecket; er den Reichthum der seinigen liebgewinnen, und ihre Armuth, wo es seyn kann, mit fremden Schäzzen bereichere: sie ist der Leitfaden, ohne den er sich im Labyrinth vieler fremder Spra- chen verirrt: sie ist die Rinde, die ihn auf dem unermäßlichen Ocean fremder Mundar- ten vor dem Sinken bewahret: sie bringt in die sonst verwirrende Mannichfaltigkeit der Sprachen Einheit. Nicht um meine Spra- che zu verlernen, lerne ich andre Sprachen, nicht um die Sitten meiner Erziehung umzu-
tauschen,
findet, weil es mit dem Urbilde uͤbereinſtim- met, zu dem ſie ſich formte — ſo iſt auch die Mutterſprache ſelbſt mit ihren Jdiotismen voll Eigenſinn, und mit ihren kleinen Schwach- heiten der Liebe fuͤr uns ein Bild der Schoͤn- heit. So wie ein Kind alle Bilder und neue Begriffe mit dem vergleicht, was es ſchon wußte: ſo paſſet unſer Geiſt insgeheim alle Mundarten der Mutterſprache an: ſie behaͤlt er auf der Zunge, um nachher deſto tiefer in den Unterſchied der Sprachen einzudringen: ſie behaͤlt er im Auge, um wenn er dort Luͤ- cken und Wuͤſten; hier Reichthum und Ueber- fluß in fremden Sprachen entdecket; er den Reichthum der ſeinigen liebgewinnen, und ihre Armuth, wo es ſeyn kann, mit fremden Schaͤzzen bereichere: ſie iſt der Leitfaden, ohne den er ſich im Labyrinth vieler fremder Spra- chen verirrt: ſie iſt die Rinde, die ihn auf dem unermaͤßlichen Ocean fremder Mundar- ten vor dem Sinken bewahret: ſie bringt in die ſonſt verwirrende Mannichfaltigkeit der Sprachen Einheit. Nicht um meine Spra- che zu verlernen, lerne ich andre Sprachen, nicht um die Sitten meiner Erziehung umzu-
tauſchen,
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findet, weil es mit dem Urbilde uͤbereinſtim-
met, zu dem ſie ſich formte — ſo iſt auch
die Mutterſprache ſelbſt mit ihren Jdiotismen
voll Eigenſinn, und mit ihren kleinen Schwach-
heiten der Liebe fuͤr uns ein Bild der Schoͤn-
heit. So wie ein Kind alle Bilder und neue
Begriffe mit dem vergleicht, was es ſchon
wußte: ſo paſſet unſer Geiſt insgeheim alle
Mundarten der Mutterſprache an: ſie behaͤlt
er auf der Zunge, um nachher deſto tiefer in
den Unterſchied der Sprachen einzudringen:
ſie behaͤlt er im Auge, um wenn er dort Luͤ-
cken und Wuͤſten; hier Reichthum und Ueber-
fluß in fremden Sprachen entdecket; er den
Reichthum der ſeinigen liebgewinnen, und ihre
Armuth, wo es ſeyn kann, mit fremden
Schaͤzzen bereichere: ſie iſt der Leitfaden, ohne
den er ſich im Labyrinth vieler fremder Spra-
chen verirrt: ſie iſt die Rinde, die ihn auf
dem unermaͤßlichen Ocean fremder Mundar-
ten vor dem Sinken bewahret: ſie bringt in
die ſonſt verwirrende Mannichfaltigkeit der
Sprachen Einheit. Nicht um meine Spra-
che zu verlernen, lerne ich andre Sprachen,
nicht um die Sitten meiner Erziehung umzu-
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/85>, abgerufen am 27.11.2024.
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