sche Gedanke formte sich einen Ausdruck, der ein Sohn der einfältigen Natur war, sie aber in den schönsten Jahren seiner Mutter: er ward in ihrem Schooße reif, ohne gewalt- same Gährungen, und mit einer stillen Größe vollendet. Er wand sich seiner Gebährerinn sanft vom Herzen, und bei seiner Geburt be- glückten ihn die Grazien und Göttinnen lächel- ten ihn an.)
Nun steht dieser Körper vor dir: willst du ihn, als ein todtes Kunststück betrachten, blos seine Farbe lieben, blos seinen Puzz anbeten, seine Nägel an den Füßen bewundern, und umarmen eine kalte Bildsäule: willst du im Ausdrucke ohne Gedanken Schönheit finden! - Dann bist du ein elender, kurzsichtiger, fühl- loser Betrachter! -- Nein! Siehe diesen Kör- per an, als ein Sinnbild der Seele, die ihm blos so viel körperliche Reize gab, als erfo- dert wurden, um ihn deinen irrdischen Augen sichtbar und schön darzustellen. -- (Begnüge dich also nicht mit grammatischer Schönheit, der Wörterwahl, der Stellung der Worte und des todten Rhythums; denn wenn du da trockne Richtigkeit suchest, wo
Schön-
ſche Gedanke formte ſich einen Ausdruck, der ein Sohn der einfaͤltigen Natur war, ſie aber in den ſchoͤnſten Jahren ſeiner Mutter: er ward in ihrem Schooße reif, ohne gewalt- ſame Gaͤhrungen, und mit einer ſtillen Groͤße vollendet. Er wand ſich ſeiner Gebaͤhrerinn ſanft vom Herzen, und bei ſeiner Geburt be- gluͤckten ihn die Grazien und Goͤttinnen laͤchel- ten ihn an.)
Nun ſteht dieſer Koͤrper vor dir: willſt du ihn, als ein todtes Kunſtſtuͤck betrachten, blos ſeine Farbe lieben, blos ſeinen Puzz anbeten, ſeine Naͤgel an den Fuͤßen bewundern, und umarmen eine kalte Bildſaͤule: willſt du im Ausdrucke ohne Gedanken Schoͤnheit finden! – Dann biſt du ein elender, kurzſichtiger, fuͤhl- loſer Betrachter! — Nein! Siehe dieſen Koͤr- per an, als ein Sinnbild der Seele, die ihm blos ſo viel koͤrperliche Reize gab, als erfo- dert wurden, um ihn deinen irrdiſchen Augen ſichtbar und ſchoͤn darzuſtellen. — (Begnuͤge dich alſo nicht mit grammatiſcher Schoͤnheit, der Woͤrterwahl, der Stellung der Worte und des todten Rhythums; denn wenn du da trockne Richtigkeit ſucheſt, wo
Schoͤn-
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ſche Gedanke formte ſich einen Ausdruck,
der ein Sohn der einfaͤltigen Natur war, ſie
aber in den ſchoͤnſten Jahren ſeiner Mutter:
er ward in ihrem Schooße reif, ohne gewalt-
ſame Gaͤhrungen, und mit einer ſtillen Groͤße
vollendet. Er wand ſich ſeiner Gebaͤhrerinn
ſanft vom Herzen, und bei ſeiner Geburt be-
gluͤckten ihn die Grazien und Goͤttinnen laͤchel-
ten ihn an.)
Nun ſteht dieſer Koͤrper vor dir: willſt du
ihn, als ein todtes Kunſtſtuͤck betrachten, blos
ſeine Farbe lieben, blos ſeinen Puzz anbeten,
ſeine Naͤgel an den Fuͤßen bewundern, und
umarmen eine kalte Bildſaͤule: willſt du im
Ausdrucke ohne Gedanken Schoͤnheit finden! –
Dann biſt du ein elender, kurzſichtiger, fuͤhl-
loſer Betrachter! — Nein! Siehe dieſen Koͤr-
per an, als ein Sinnbild der Seele, die ihm
blos ſo viel koͤrperliche Reize gab, als erfo-
dert wurden, um ihn deinen irrdiſchen
Augen ſichtbar und ſchoͤn darzuſtellen. —
(Begnuͤge dich alſo nicht mit grammatiſcher
Schoͤnheit, der Woͤrterwahl, der Stellung
der Worte und des todten Rhythums; denn
wenn du da trockne Richtigkeit ſucheſt, wo
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/80>, abgerufen am 27.11.2024.
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