Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

Bild:
<< vorherige Seite

Ausdruck erhaschen wollte, und wie die Alten
zu sprechen, weil man wiederum den Aus-
druck vom Gedanken abgesondert betrachtete.
Je mehr ich der Sache nachdenke, daß man
es für nüzzlich, ja für nothwendig habe hal-
ten können, in Poesten Gedanke und Ausdruck
unverbunden zu behandeln, in Poeticken un-
verbunden zu lehren, und in Alten unverbun-
den zu zergliedern: desto fremder kömmt mir
diese Zerreißung vor.

Gedanke und Ausdruck! verhält er sich
hier wie ein Kleid zu seinem Körper *? Das
beste Kleid ist bey einem schönen Körper blos
Hinderniß. -- Verhält er sich, wie die Haut
zum Körper **? Auch noch nicht gnug: die
Farbe und glatte Haut macht nie die Schön-
heit vollkommen aus. Wie eine Braut bei
ihrem Geliebten, wenn derselbe seinen Arm
um sie geschlungen, an ihrem Munde hanget:
Wie zwei zusammen Vermälte, die sich ein-
ander mittheilen; ein Paar Zwillinge, die
zusammen gebildet und erzogen, sich lieben
und begleiten wie Shakespears Freundin-
nen?
Diese Bilder sind bedeutend, aber wie

mich
* Litt. Br. Th. 17. p. 114.
** p. 114.
E 3

Ausdruck erhaſchen wollte, und wie die Alten
zu ſprechen, weil man wiederum den Aus-
druck vom Gedanken abgeſondert betrachtete.
Je mehr ich der Sache nachdenke, daß man
es fuͤr nuͤzzlich, ja fuͤr nothwendig habe hal-
ten koͤnnen, in Poeſten Gedanke und Ausdruck
unverbunden zu behandeln, in Poeticken un-
verbunden zu lehren, und in Alten unverbun-
den zu zergliedern: deſto fremder koͤmmt mir
dieſe Zerreißung vor.

Gedanke und Ausdruck! verhaͤlt er ſich
hier wie ein Kleid zu ſeinem Koͤrper *? Das
beſte Kleid iſt bey einem ſchoͤnen Koͤrper blos
Hinderniß. — Verhaͤlt er ſich, wie die Haut
zum Koͤrper **? Auch noch nicht gnug: die
Farbe und glatte Haut macht nie die Schoͤn-
heit vollkommen aus. Wie eine Braut bei
ihrem Geliebten, wenn derſelbe ſeinen Arm
um ſie geſchlungen, an ihrem Munde hanget:
Wie zwei zuſammen Vermaͤlte, die ſich ein-
ander mittheilen; ein Paar Zwillinge, die
zuſammen gebildet und erzogen, ſich lieben
und begleiten wie Shakeſpears Freundin-
nen?
Dieſe Bilder ſind bedeutend, aber wie

mich
* Litt. Br. Th. 17. p. 114.
** p. 114.
E 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0077" n="69"/>
Ausdruck erha&#x017F;chen wollte, und wie die Alten<lb/>
zu <hi rendition="#fr">&#x017F;prechen,</hi> weil man wiederum den Aus-<lb/>
druck vom Gedanken abge&#x017F;ondert betrachtete.<lb/>
Je mehr ich der Sache nachdenke, daß man<lb/>
es fu&#x0364;r nu&#x0364;zzlich, ja fu&#x0364;r nothwendig habe hal-<lb/>
ten ko&#x0364;nnen, in Poe&#x017F;ten Gedanke und Ausdruck<lb/>
unverbunden zu behandeln, in Poeticken un-<lb/>
verbunden zu lehren, und in Alten unverbun-<lb/>
den zu zergliedern: de&#x017F;to fremder ko&#x0364;mmt mir<lb/>
die&#x017F;e Zerreißung vor.</p><lb/>
                <p><hi rendition="#fr">Gedanke</hi> und <hi rendition="#fr">Ausdruck!</hi> verha&#x0364;lt er &#x017F;ich<lb/>
hier wie ein Kleid zu &#x017F;einem Ko&#x0364;rper <note place="foot" n="*">Litt. Br. Th. 17. p. 114.</note>? Das<lb/>
be&#x017F;te Kleid i&#x017F;t bey einem &#x017F;cho&#x0364;nen Ko&#x0364;rper blos<lb/>
Hinderniß. &#x2014; Verha&#x0364;lt er &#x017F;ich, wie die Haut<lb/>
zum Ko&#x0364;rper <note place="foot" n="**">p. 114.</note>? Auch noch nicht gnug: die<lb/>
Farbe und glatte Haut macht nie die Scho&#x0364;n-<lb/>
heit vollkommen aus. Wie eine Braut bei<lb/>
ihrem Geliebten, wenn der&#x017F;elbe &#x017F;einen Arm<lb/>
um &#x017F;ie ge&#x017F;chlungen, an ihrem Munde hanget:<lb/>
Wie zwei zu&#x017F;ammen Verma&#x0364;lte, die &#x017F;ich ein-<lb/>
ander mittheilen; ein Paar Zwillinge, die<lb/>
zu&#x017F;ammen gebildet und erzogen, &#x017F;ich lieben<lb/>
und begleiten wie <hi rendition="#fr">Shake&#x017F;pears Freundin-<lb/>
nen?</hi> Die&#x017F;e Bilder &#x017F;ind bedeutend, aber wie<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">E 3</fw><fw place="bottom" type="catch">mich</fw><lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[69/0077] Ausdruck erhaſchen wollte, und wie die Alten zu ſprechen, weil man wiederum den Aus- druck vom Gedanken abgeſondert betrachtete. Je mehr ich der Sache nachdenke, daß man es fuͤr nuͤzzlich, ja fuͤr nothwendig habe hal- ten koͤnnen, in Poeſten Gedanke und Ausdruck unverbunden zu behandeln, in Poeticken un- verbunden zu lehren, und in Alten unverbun- den zu zergliedern: deſto fremder koͤmmt mir dieſe Zerreißung vor. Gedanke und Ausdruck! verhaͤlt er ſich hier wie ein Kleid zu ſeinem Koͤrper *? Das beſte Kleid iſt bey einem ſchoͤnen Koͤrper blos Hinderniß. — Verhaͤlt er ſich, wie die Haut zum Koͤrper **? Auch noch nicht gnug: die Farbe und glatte Haut macht nie die Schoͤn- heit vollkommen aus. Wie eine Braut bei ihrem Geliebten, wenn derſelbe ſeinen Arm um ſie geſchlungen, an ihrem Munde hanget: Wie zwei zuſammen Vermaͤlte, die ſich ein- ander mittheilen; ein Paar Zwillinge, die zuſammen gebildet und erzogen, ſich lieben und begleiten wie Shakeſpears Freundin- nen? Dieſe Bilder ſind bedeutend, aber wie mich * Litt. Br. Th. 17. p. 114. ** p. 114. E 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/77
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/77>, abgerufen am 22.11.2024.