süße Herren verspotten, und närrisch finden: daher rührt alles Leben der Dichtkunst, was ausstarb, da der Ausdruck nichts als Kunst wurde, da man ihn von dem, was er aus- drücken sollte, abtrennete: der ganze Ver- fall der Dichterei, daß man sie der Mutter Ratur entführte, in das Land der Kunst brach- te, und als eine Tochter der Künstelei ansah: der Fluch, der auf dem Lesen der Alten ru- het, wenn wir blos Worte lernen, oder den Jnhalt historisch durchwandern, oder Aesthe- tische Regeln suchen, oder Beispiele ausklau- ben, kurz! wenn wir Gedanken und Wor- te in ihnen abgetrennt betrachten: nicht das schöpferische Ohr haben, das die Empfindung in seinem Ausdrucke, in vollem Tone höret; nicht jenes dichterische Auge haben, das den Ausdruck als einen Körper erblickt, in wel- chem sein Geist denket und spricht und handelt. "Daher rührt das Aesthetische Gewäsche, wo "immer Gedanke, vom Ausdrucke abgesondert, "behandelt wird *:" daher rührt jener Un- segen, daß es uns schwer wird, wie die Al- ten zu denken, weil man das Denken ohne
Aus-
* Litt. Br. Th. 17. p. 114.
ſuͤße Herren verſpotten, und naͤrriſch finden: daher ruͤhrt alles Leben der Dichtkunſt, was ausſtarb, da der Ausdruck nichts als Kunſt wurde, da man ihn von dem, was er aus- druͤcken ſollte, abtrennete: der ganze Ver- fall der Dichterei, daß man ſie der Mutter Ratur entfuͤhrte, in das Land der Kunſt brach- te, und als eine Tochter der Kuͤnſtelei anſah: der Fluch, der auf dem Leſen der Alten ru- het, wenn wir blos Worte lernen, oder den Jnhalt hiſtoriſch durchwandern, oder Aeſthe- tiſche Regeln ſuchen, oder Beiſpiele ausklau- ben, kurz! wenn wir Gedanken und Wor- te in ihnen abgetrennt betrachten: nicht das ſchoͤpferiſche Ohr haben, das die Empfindung in ſeinem Ausdrucke, in vollem Tone hoͤret; nicht jenes dichteriſche Auge haben, das den Ausdruck als einen Koͤrper erblickt, in wel- chem ſein Geiſt denket und ſpricht und handelt. „Daher ruͤhrt das Aeſthetiſche Gewaͤſche, wo „immer Gedanke, vom Ausdrucke abgeſondert, „behandelt wird *:„ daher ruͤhrt jener Un- ſegen, daß es uns ſchwer wird, wie die Al- ten zu denken, weil man das Denken ohne
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* Litt. Br. Th. 17. p. 114.
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ſuͤße Herren verſpotten, und naͤrriſch finden:
daher ruͤhrt alles Leben der Dichtkunſt, was
ausſtarb, da der Ausdruck nichts als Kunſt
wurde, da man ihn von dem, was er aus-
druͤcken ſollte, abtrennete: der ganze Ver-
fall der Dichterei, daß man ſie der Mutter
Ratur entfuͤhrte, in das Land der Kunſt brach-
te, und als eine Tochter der Kuͤnſtelei anſah:
der Fluch, der auf dem Leſen der Alten ru-
het, wenn wir blos Worte lernen, oder den
Jnhalt hiſtoriſch durchwandern, oder Aeſthe-
tiſche Regeln ſuchen, oder Beiſpiele ausklau-
ben, kurz! wenn wir Gedanken und Wor-
te in ihnen abgetrennt betrachten: nicht das
ſchoͤpferiſche Ohr haben, das die Empfindung
in ſeinem Ausdrucke, in vollem Tone hoͤret;
nicht jenes dichteriſche Auge haben, das den
Ausdruck als einen Koͤrper erblickt, in wel-
chem ſein Geiſt denket und ſpricht und handelt.
„Daher ruͤhrt das Aeſthetiſche Gewaͤſche, wo
„immer Gedanke, vom Ausdrucke abgeſondert,
„behandelt wird *:„ daher ruͤhrt jener Un-
ſegen, daß es uns ſchwer wird, wie die Al-
ten zu denken, weil man das Denken ohne
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* Litt. Br. Th. 17. p. 114.
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/76>, abgerufen am 26.11.2024.
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