Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

Bild:
<< vorherige Seite

süße Herren verspotten, und närrisch finden:
daher rührt alles Leben der Dichtkunst, was
ausstarb, da der Ausdruck nichts als Kunst
wurde, da man ihn von dem, was er aus-
drücken sollte,
abtrennete: der ganze Ver-
fall der Dichterei, daß man sie der Mutter
Ratur entführte, in das Land der Kunst brach-
te, und als eine Tochter der Künstelei ansah:
der Fluch, der auf dem Lesen der Alten ru-
het, wenn wir blos Worte lernen, oder den
Jnhalt historisch durchwandern, oder Aesthe-
tische Regeln suchen, oder Beispiele ausklau-
ben, kurz! wenn wir Gedanken und Wor-
te in ihnen
abgetrennt betrachten: nicht das
schöpferische Ohr haben, das die Empfindung
in seinem Ausdrucke, in vollem Tone höret;
nicht jenes dichterische Auge haben, das den
Ausdruck als einen Körper erblickt, in wel-
chem sein Geist denket und spricht und handelt.
"Daher rührt das Aesthetische Gewäsche, wo
"immer Gedanke, vom Ausdrucke abgesondert,
"behandelt wird *:" daher rührt jener Un-
segen, daß es uns schwer wird, wie die Al-
ten zu denken, weil man das Denken ohne

Aus-
* Litt. Br. Th. 17. p. 114.

ſuͤße Herren verſpotten, und naͤrriſch finden:
daher ruͤhrt alles Leben der Dichtkunſt, was
ausſtarb, da der Ausdruck nichts als Kunſt
wurde, da man ihn von dem, was er aus-
druͤcken ſollte,
abtrennete: der ganze Ver-
fall der Dichterei, daß man ſie der Mutter
Ratur entfuͤhrte, in das Land der Kunſt brach-
te, und als eine Tochter der Kuͤnſtelei anſah:
der Fluch, der auf dem Leſen der Alten ru-
het, wenn wir blos Worte lernen, oder den
Jnhalt hiſtoriſch durchwandern, oder Aeſthe-
tiſche Regeln ſuchen, oder Beiſpiele ausklau-
ben, kurz! wenn wir Gedanken und Wor-
te in ihnen
abgetrennt betrachten: nicht das
ſchoͤpferiſche Ohr haben, das die Empfindung
in ſeinem Ausdrucke, in vollem Tone hoͤret;
nicht jenes dichteriſche Auge haben, das den
Ausdruck als einen Koͤrper erblickt, in wel-
chem ſein Geiſt denket und ſpricht und handelt.
„Daher ruͤhrt das Aeſthetiſche Gewaͤſche, wo
„immer Gedanke, vom Ausdrucke abgeſondert,
„behandelt wird *:„ daher ruͤhrt jener Un-
ſegen, daß es uns ſchwer wird, wie die Al-
ten zu denken, weil man das Denken ohne

Aus-
* Litt. Br. Th. 17. p. 114.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0076" n="68"/>
&#x017F;u&#x0364;ße Herren ver&#x017F;potten, und na&#x0364;rri&#x017F;ch finden:<lb/>
daher ru&#x0364;hrt <hi rendition="#fr">alles Leben</hi> der Dichtkun&#x017F;t, was<lb/>
aus&#x017F;tarb, da <hi rendition="#fr">der Ausdruck</hi> nichts als <hi rendition="#fr">Kun&#x017F;t</hi><lb/>
wurde, da man ihn von dem, <hi rendition="#fr">was er aus-<lb/>
dru&#x0364;cken &#x017F;ollte,</hi> abtrennete: der ganze Ver-<lb/>
fall der Dichterei, daß man &#x017F;ie der Mutter<lb/>
Ratur entfu&#x0364;hrte, in das Land der Kun&#x017F;t brach-<lb/>
te, und als eine Tochter der Ku&#x0364;n&#x017F;telei an&#x017F;ah:<lb/>
der Fluch, der auf dem Le&#x017F;en der Alten ru-<lb/>
het, wenn wir blos Worte lernen, oder den<lb/>
Jnhalt hi&#x017F;tori&#x017F;ch durchwandern, oder Ae&#x017F;the-<lb/>
ti&#x017F;che Regeln &#x017F;uchen, oder Bei&#x017F;piele ausklau-<lb/>
ben, kurz! wenn wir <hi rendition="#fr">Gedanken und Wor-<lb/>
te in ihnen</hi> abgetrennt betrachten: nicht das<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;pferi&#x017F;che Ohr haben, das die Empfindung<lb/>
in &#x017F;einem Ausdrucke, in vollem Tone ho&#x0364;ret;<lb/>
nicht jenes dichteri&#x017F;che Auge haben, das den<lb/>
Ausdruck als einen Ko&#x0364;rper erblickt, in wel-<lb/>
chem &#x017F;ein Gei&#x017F;t denket und &#x017F;pricht und handelt.<lb/>
&#x201E;Daher ru&#x0364;hrt das Ae&#x017F;theti&#x017F;che Gewa&#x0364;&#x017F;che, wo<lb/>
&#x201E;immer Gedanke, vom Ausdrucke abge&#x017F;ondert,<lb/>
&#x201E;behandelt wird <note place="foot" n="*">Litt. Br. Th. 17. p. 114.</note>:&#x201E; daher ru&#x0364;hrt jener Un-<lb/>
&#x017F;egen, daß es uns &#x017F;chwer wird, wie die Al-<lb/>
ten <hi rendition="#fr">zu denken,</hi> weil man das Denken ohne<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Aus-</fw><lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[68/0076] ſuͤße Herren verſpotten, und naͤrriſch finden: daher ruͤhrt alles Leben der Dichtkunſt, was ausſtarb, da der Ausdruck nichts als Kunſt wurde, da man ihn von dem, was er aus- druͤcken ſollte, abtrennete: der ganze Ver- fall der Dichterei, daß man ſie der Mutter Ratur entfuͤhrte, in das Land der Kunſt brach- te, und als eine Tochter der Kuͤnſtelei anſah: der Fluch, der auf dem Leſen der Alten ru- het, wenn wir blos Worte lernen, oder den Jnhalt hiſtoriſch durchwandern, oder Aeſthe- tiſche Regeln ſuchen, oder Beiſpiele ausklau- ben, kurz! wenn wir Gedanken und Wor- te in ihnen abgetrennt betrachten: nicht das ſchoͤpferiſche Ohr haben, das die Empfindung in ſeinem Ausdrucke, in vollem Tone hoͤret; nicht jenes dichteriſche Auge haben, das den Ausdruck als einen Koͤrper erblickt, in wel- chem ſein Geiſt denket und ſpricht und handelt. „Daher ruͤhrt das Aeſthetiſche Gewaͤſche, wo „immer Gedanke, vom Ausdrucke abgeſondert, „behandelt wird *:„ daher ruͤhrt jener Un- ſegen, daß es uns ſchwer wird, wie die Al- ten zu denken, weil man das Denken ohne Aus- * Litt. Br. Th. 17. p. 114.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/76
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/76>, abgerufen am 26.11.2024.