"nicht verdrüßlich zu werden: insonderheit "vor einer Versammlung, (der Römer sagt: "vor Richtern, die nicht nach Gesezz und "Recht, sondern nach Gewalt und Ansehen "ein Urtheil fällen,) die sich nicht immer "nach Gründen und Pflicht, sondern nach "Bequemlichkeit und Neigung bestimmet, die "sich nicht vom Redner Zeit vorschreiben "läßt, sondern sie sich selbst nimmt." So urtheilten die Römer *, über einerlei Rede- gattung, vor einerlei Volk, über einerlei Materie, in einerlei Sprache, zu einerlei Zwe- cken; blos die Zeit hatte sich geändert -- Und wir, in einer ganz verschiednen Art von Beredsamkeit, vor andern Zuhörern, über andre Sache, in einer andern Sprache, zu andern Zwecken, wollen ihnen blind nach- ahmen? --
Jetzt höre man des vorigen Römers Ur- theil von Cicero, über den er doch besser ur- theilen konnte, als wir: "Cicero hat eben- "falls der alten Beredsamkeit den Ausdruck "seiner Zeit vorgezogen, und hat die Redner "eines frühern Zeitalters in nichts so sehr
"über-
*De causs. corrupt. eloquent. dial.
„nicht verdruͤßlich zu werden: inſonderheit „vor einer Verſammlung, (der Roͤmer ſagt: „vor Richtern, die nicht nach Geſezz und „Recht, ſondern nach Gewalt und Anſehen „ein Urtheil faͤllen,) die ſich nicht immer „nach Gruͤnden und Pflicht, ſondern nach „Bequemlichkeit und Neigung beſtimmet, die „ſich nicht vom Redner Zeit vorſchreiben „laͤßt, ſondern ſie ſich ſelbſt nimmt.„ So urtheilten die Roͤmer *, uͤber einerlei Rede- gattung, vor einerlei Volk, uͤber einerlei Materie, in einerlei Sprache, zu einerlei Zwe- cken; blos die Zeit hatte ſich geaͤndert — Und wir, in einer ganz verſchiednen Art von Beredſamkeit, vor andern Zuhoͤrern, uͤber andre Sache, in einer andern Sprache, zu andern Zwecken, wollen ihnen blind nach- ahmen? —
Jetzt hoͤre man des vorigen Roͤmers Ur- theil von Cicero, uͤber den er doch beſſer ur- theilen konnte, als wir: „Cicero hat eben- „falls der alten Beredſamkeit den Ausdruck „ſeiner Zeit vorgezogen, und hat die Redner „eines fruͤhern Zeitalters in nichts ſo ſehr
„uͤber-
*De cauſſ. corrupt. eloquent. dial.
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„nicht verdruͤßlich zu werden: inſonderheit
„vor einer Verſammlung, (der Roͤmer ſagt:
„vor Richtern, die nicht nach Geſezz und
„Recht, ſondern nach Gewalt und Anſehen
„ein Urtheil faͤllen,) die ſich nicht immer
„nach Gruͤnden und Pflicht, ſondern nach
„Bequemlichkeit und Neigung beſtimmet, die
„ſich nicht vom Redner Zeit vorſchreiben
„laͤßt, ſondern ſie ſich ſelbſt nimmt.„ So
urtheilten die Roͤmer *, uͤber einerlei Rede-
gattung, vor einerlei Volk, uͤber einerlei
Materie, in einerlei Sprache, zu einerlei Zwe-
cken; blos die Zeit hatte ſich geaͤndert —
Und wir, in einer ganz verſchiednen Art von
Beredſamkeit, vor andern Zuhoͤrern, uͤber
andre Sache, in einer andern Sprache, zu
andern Zwecken, wollen ihnen blind nach-
ahmen? —
Jetzt hoͤre man des vorigen Roͤmers Ur-
theil von Cicero, uͤber den er doch beſſer ur-
theilen konnte, als wir: „Cicero hat eben-
„falls der alten Beredſamkeit den Ausdruck
„ſeiner Zeit vorgezogen, und hat die Redner
„eines fruͤhern Zeitalters in nichts ſo ſehr
„uͤber-
* De cauſſ. corrupt. eloquent. dial.
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 292. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/300>, abgerufen am 22.11.2024.
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