sprachen: sie schlugen also an jede Saite ih- rer Empfindungen, die mit ihrem Zwecke ein- tönig war: sie weckten den Haß, die Liebe auf, die in ihren Herzen schlummerte, weil sie ihnen vortheilhaft, nicht weil sie mora- lisch gut war. Sie flößten ihnen Affekten ein, nicht weil ihre Seele in diesem Feuer schöner und besser würde: sondern weil diese, oft blinde, oft schädliche, und immer kurze Hitze ihren Zweck beförderte. Der Redner hätte in den wenigsten Fällen, die Entschlüsse, die er wirkte, gleichsam zur beständigen Ge- sinnung, zur herrschenden Denkart machen können, theils weil die Entschlüsse Zeitent- schlüsse waren, und die Affekten, die er auf- regte, oft unmoralisch seyn mußten. -- Welch eine ganz andre Bewandniß mit den geistlichen Ciceronen unsrer Zeit: Reden sie um eine Viertelstunde zu bezaubern, so pre- digen sie sicherlich nicht die Religion, sondern sich selbst. Regen sie die ganze Phantasie der Zuhörer auf: so bleibt ihr Verstand um so viel kälter: erfüllen sie die ganze Atmosphäre des Tempels mit Specereyen: so wird der Zuhörer um so freier athmen, wenn er in die
frische
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ſprachen: ſie ſchlugen alſo an jede Saite ih- rer Empfindungen, die mit ihrem Zwecke ein- toͤnig war: ſie weckten den Haß, die Liebe auf, die in ihren Herzen ſchlummerte, weil ſie ihnen vortheilhaft, nicht weil ſie mora- liſch gut war. Sie floͤßten ihnen Affekten ein, nicht weil ihre Seele in dieſem Feuer ſchoͤner und beſſer wuͤrde: ſondern weil dieſe, oft blinde, oft ſchaͤdliche, und immer kurze Hitze ihren Zweck befoͤrderte. Der Redner haͤtte in den wenigſten Faͤllen, die Entſchluͤſſe, die er wirkte, gleichſam zur beſtaͤndigen Ge- ſinnung, zur herrſchenden Denkart machen koͤnnen, theils weil die Entſchluͤſſe Zeitent- ſchluͤſſe waren, und die Affekten, die er auf- regte, oft unmoraliſch ſeyn mußten. — Welch eine ganz andre Bewandniß mit den geiſtlichen Ciceronen unſrer Zeit: Reden ſie um eine Viertelſtunde zu bezaubern, ſo pre- digen ſie ſicherlich nicht die Religion, ſondern ſich ſelbſt. Regen ſie die ganze Phantaſie der Zuhoͤrer auf: ſo bleibt ihr Verſtand um ſo viel kaͤlter: erfuͤllen ſie die ganze Atmoſphaͤre des Tempels mit Specereyen: ſo wird der Zuhoͤrer um ſo freier athmen, wenn er in die
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ſprachen: ſie ſchlugen alſo an jede Saite ih-
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toͤnig war: ſie weckten den Haß, die Liebe
auf, die in ihren Herzen ſchlummerte, weil
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liſch gut war. Sie floͤßten ihnen Affekten
ein, nicht weil ihre Seele in dieſem Feuer
ſchoͤner und beſſer wuͤrde: ſondern weil dieſe,
oft blinde, oft ſchaͤdliche, und immer kurze
Hitze ihren Zweck befoͤrderte. Der Redner
haͤtte in den wenigſten Faͤllen, die Entſchluͤſſe,
die er wirkte, gleichſam zur beſtaͤndigen Ge-
ſinnung, zur herrſchenden Denkart machen
koͤnnen, theils weil die Entſchluͤſſe Zeitent-
ſchluͤſſe waren, und die Affekten, die er auf-
regte, oft unmoraliſch ſeyn mußten. —
Welch eine ganz andre Bewandniß mit den
geiſtlichen Ciceronen unſrer Zeit: Reden ſie
um eine Viertelſtunde zu bezaubern, ſo pre-
digen ſie ſicherlich nicht die Religion, ſondern
ſich ſelbſt. Regen ſie die ganze Phantaſie der
Zuhoͤrer auf: ſo bleibt ihr Verſtand um ſo
viel kaͤlter: erfuͤllen ſie die ganze Atmoſphaͤre
des Tempels mit Specereyen: ſo wird der
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/285>, abgerufen am 22.11.2024.
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