Jch suche die bisher vorgezeichnete Aussicht der Litter. Br. etwas weiter zu verfolgen. -- Wenn wir auf unsern Rathhäusern keine Ci- ceronen mehr haben, da jetzt das Urtheil einer wichtigen Sache nicht mehr vom Volk, und von dem Zuklatschen seiner Hände, nicht mehr von den Rednersiguren eines Advokaten, nicht mehr von einer glücklichen Viertelstunde oder einem muntern Einfall abhängt: sondern von Richtern, bei denen Gesezze, Proceßformen, Rechtsgänge, oder höchstens Schmeicheleyen, die die Hand, und nicht das Ohr kitzeln, ihr Urtheil bestimmen: so ist die Beredsamkeit, wie es scheint, in die Tempel geflohen, und auf den Kanzeln stehen noch viele Ciceronen.
Ciceronen können sie nicht seyn, und darf ich dazu sezzen; sie sollen es auch nicht seyn: denn sie sinds am unrechten Orte. Zuerst: da das Volk, dem sie reden, nie das römische Volk ist: nie jene Quiriten von stolzem Ohr und feiner Empfindung,
nie
6. Sollen wir Ciceronen auf den Kan- zeln haben?
Jch ſuche die bisher vorgezeichnete Ausſicht der Litter. Br. etwas weiter zu verfolgen. — Wenn wir auf unſern Rathhaͤuſern keine Ci- ceronen mehr haben, da jetzt das Urtheil einer wichtigen Sache nicht mehr vom Volk, und von dem Zuklatſchen ſeiner Haͤnde, nicht mehr von den Rednerſiguren eines Advokaten, nicht mehr von einer gluͤcklichen Viertelſtunde oder einem muntern Einfall abhaͤngt: ſondern von Richtern, bei denen Geſezze, Proceßformen, Rechtsgaͤnge, oder hoͤchſtens Schmeicheleyen, die die Hand, und nicht das Ohr kitzeln, ihr Urtheil beſtimmen: ſo iſt die Beredſamkeit, wie es ſcheint, in die Tempel geflohen, und auf den Kanzeln ſtehen noch viele Ciceronen.
Ciceronen koͤnnen ſie nicht ſeyn, und darf ich dazu ſezzen; ſie ſollen es auch nicht ſeyn: denn ſie ſinds am unrechten Orte. Zuerſt: da das Volk, dem ſie reden, nie das roͤmiſche Volk iſt: nie jene Quiriten von ſtolzem Ohr und feiner Empfindung,
nie
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><pbfacs="#f0282"n="274"/><divn="5"><head><hirendition="#b">6.</hi><lb/>
Sollen wir Ciceronen auf den Kan-<lb/>
zeln haben?</head><lb/><p><hirendition="#in">J</hi>ch ſuche die bisher vorgezeichnete Ausſicht<lb/>
der Litter. Br. etwas weiter zu verfolgen. —<lb/>
Wenn wir auf unſern Rathhaͤuſern keine Ci-<lb/>
ceronen mehr haben, da jetzt das Urtheil einer<lb/>
wichtigen Sache nicht mehr vom Volk, und<lb/>
von dem Zuklatſchen ſeiner Haͤnde, nicht mehr<lb/>
von den Rednerſiguren eines Advokaten, nicht<lb/>
mehr von einer gluͤcklichen Viertelſtunde oder<lb/>
einem muntern Einfall abhaͤngt: ſondern von<lb/>
Richtern, bei denen Geſezze, Proceßformen,<lb/>
Rechtsgaͤnge, oder hoͤchſtens Schmeicheleyen,<lb/>
die die Hand, und nicht das Ohr kitzeln, ihr<lb/>
Urtheil beſtimmen: ſo iſt die Beredſamkeit,<lb/>
wie es ſcheint, in die Tempel geflohen, und<lb/>
auf den Kanzeln ſtehen noch viele <hirendition="#fr">Ciceronen.</hi></p><lb/><p><hirendition="#fr">Ciceronen koͤnnen</hi>ſie nicht ſeyn, und<lb/>
darf ich dazu ſezzen; ſie <hirendition="#fr">ſollen</hi> es auch nicht<lb/>ſeyn: denn ſie ſinds am unrechten Orte.<lb/>
Zuerſt: da das <hirendition="#fr">Volk,</hi> dem ſie reden, nie<lb/>
das <hirendition="#fr">roͤmiſche</hi> Volk iſt: nie jene <hirendition="#fr">Quiriten</hi><lb/>
von ſtolzem Ohr und feiner Empfindung,<lb/><fwplace="bottom"type="catch">nie</fw><lb/></p></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[274/0282]
6.
Sollen wir Ciceronen auf den Kan-
zeln haben?
Jch ſuche die bisher vorgezeichnete Ausſicht
der Litter. Br. etwas weiter zu verfolgen. —
Wenn wir auf unſern Rathhaͤuſern keine Ci-
ceronen mehr haben, da jetzt das Urtheil einer
wichtigen Sache nicht mehr vom Volk, und
von dem Zuklatſchen ſeiner Haͤnde, nicht mehr
von den Rednerſiguren eines Advokaten, nicht
mehr von einer gluͤcklichen Viertelſtunde oder
einem muntern Einfall abhaͤngt: ſondern von
Richtern, bei denen Geſezze, Proceßformen,
Rechtsgaͤnge, oder hoͤchſtens Schmeicheleyen,
die die Hand, und nicht das Ohr kitzeln, ihr
Urtheil beſtimmen: ſo iſt die Beredſamkeit,
wie es ſcheint, in die Tempel geflohen, und
auf den Kanzeln ſtehen noch viele Ciceronen.
Ciceronen koͤnnen ſie nicht ſeyn, und
darf ich dazu ſezzen; ſie ſollen es auch nicht
ſeyn: denn ſie ſinds am unrechten Orte.
Zuerſt: da das Volk, dem ſie reden, nie
das roͤmiſche Volk iſt: nie jene Quiriten
von ſtolzem Ohr und feiner Empfindung,
nie
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/282>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.