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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

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"gebracht ist, gibt seinem ineptus Fannius
"etwa einmal einen Hieb, und läßt ihn
Discipulorum inter plorare cathedras.
"Aber es geschieht selten. Der satyrische
"Dichter ist seinem Temperament nach cupi-
"dus pacis,
und dies macht ihn eben zu die-
"ser Naivetät geschickt. Keine starke Leiden-
"schaft, welche tobend ist, wohnt in der See-
"le, die einen naiven Gedanken ausdrücken,
"oder eine naive Handlung vornehmen soll.
"La Fontaine und Gellert haben nur dies
"satyrische Talent, und ich vermuthe sogar,
"daß sie durch dasselbe zu der Erzählungsart
"in ihren Fabeln sind gebracht worden, die
"ihnen beliebt hat. Fast allein ihre Aus-
"schweifungen, durch welche sie von der äso-
"pischen Kürze abweichen, und die unsre ein-
"fältige Nachahmerheerde für bloße Aus-
"schmückungen der Erzählung gehalten hat,
"sind satyrische Züge, die dem Dichter entwi-
"schen, und eben deswegen so sehr gefallen,
"weil er sich so blöde und unerfahren anstellt.
"Ein Mann, der so unschuldig ist; wie könn-
"te der mir Schaden thun, wenn er mir auch
"die Wahrheit saget? Er sagt sie in seiner

"Un-

„gebracht iſt, gibt ſeinem ineptus Fannius
„etwa einmal einen Hieb, und laͤßt ihn
Diſcipulorum inter plorare cathedras.
„Aber es geſchieht ſelten. Der ſatyriſche
„Dichter iſt ſeinem Temperament nach cupi-
„dus pacis,
und dies macht ihn eben zu die-
„ſer Naivetaͤt geſchickt. Keine ſtarke Leiden-
„ſchaft, welche tobend iſt, wohnt in der See-
„le, die einen naiven Gedanken ausdruͤcken,
„oder eine naive Handlung vornehmen ſoll.
La Fontaine und Gellert haben nur dies
„ſatyriſche Talent, und ich vermuthe ſogar,
„daß ſie durch daſſelbe zu der Erzaͤhlungsart
„in ihren Fabeln ſind gebracht worden, die
„ihnen beliebt hat. Faſt allein ihre Aus-
„ſchweifungen, durch welche ſie von der aͤſo-
„piſchen Kuͤrze abweichen, und die unſre ein-
„faͤltige Nachahmerheerde fuͤr bloße Aus-
„ſchmuͤckungen der Erzaͤhlung gehalten hat,
„ſind ſatyriſche Zuͤge, die dem Dichter entwi-
„ſchen, und eben deswegen ſo ſehr gefallen,
„weil er ſich ſo bloͤde und unerfahren anſtellt.
„Ein Mann, der ſo unſchuldig iſt; wie koͤnn-
„te der mir Schaden thun, wenn er mir auch
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[256/0264] „gebracht iſt, gibt ſeinem ineptus Fannius „etwa einmal einen Hieb, und laͤßt ihn Diſcipulorum inter plorare cathedras. „Aber es geſchieht ſelten. Der ſatyriſche „Dichter iſt ſeinem Temperament nach cupi- „dus pacis, und dies macht ihn eben zu die- „ſer Naivetaͤt geſchickt. Keine ſtarke Leiden- „ſchaft, welche tobend iſt, wohnt in der See- „le, die einen naiven Gedanken ausdruͤcken, „oder eine naive Handlung vornehmen ſoll. „La Fontaine und Gellert haben nur dies „ſatyriſche Talent, und ich vermuthe ſogar, „daß ſie durch daſſelbe zu der Erzaͤhlungsart „in ihren Fabeln ſind gebracht worden, die „ihnen beliebt hat. Faſt allein ihre Aus- „ſchweifungen, durch welche ſie von der aͤſo- „piſchen Kuͤrze abweichen, und die unſre ein- „faͤltige Nachahmerheerde fuͤr bloße Aus- „ſchmuͤckungen der Erzaͤhlung gehalten hat, „ſind ſatyriſche Zuͤge, die dem Dichter entwi- „ſchen, und eben deswegen ſo ſehr gefallen, „weil er ſich ſo bloͤde und unerfahren anſtellt. „Ein Mann, der ſo unſchuldig iſt; wie koͤnn- „te der mir Schaden thun, wenn er mir auch „die Wahrheit ſaget? Er ſagt ſie in ſeiner „Un-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/264>, abgerufen am 25.11.2024.