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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

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gleich den Fluthen des Meeres überschwem-
met: so sind alle ihre schöne Auswüchse von
angenehmen Bildern, alle Früchte nützlicher
Ueberlegungen auf einmal verdecket *. Man
erblickt nichts, als eine traurige Fläche, und
hört nichts, als das wilde Rauschen der Weh-
muth. Es gibt Seelen, welche besser ver-

wahrt,
* Hieraus glaube ich, geht man der Frage entgegen,
die unter einigen neuen Kunstrichtern, bald
verneint, bald bejahet ist: ob die Ode wahre
Empfindung, oder Nachahmung sey? Spielt
man nicht mit der ganzen Frage: so muß man
theilen, und fragen: ist die Ode ein wirk-
licher Ausbruch von Leidenschaft und
Empfindung?
unmöglich, wenn ich eine
Ode nach der gewöhnliehen Bedeutung ver-
stehe, so ist sie schon immer künstliche Sprache.
Kann die Ode ein poetischer Ausdruck
einer wahren Empfindung seyn?
Ja,
und billig sollte sie es durchaus seyn. Kann
der poetische Ausdruck einer wahren
Empfindung Nachahmung heißen?
Mei-
netwegen! nur den poetischen Ausdruck be-
trift das Nachahmende allein; die Empfindung
bleibt die wahre, nur sie ist schon so gelindert,
daß die Einbildungskraft gleichsam ihren natür-
lichen Ausdruck in einen Ausdruck der Kunst
überträgt.

gleich den Fluthen des Meeres uͤberſchwem-
met: ſo ſind alle ihre ſchoͤne Auswuͤchſe von
angenehmen Bildern, alle Fruͤchte nuͤtzlicher
Ueberlegungen auf einmal verdecket *. Man
erblickt nichts, als eine traurige Flaͤche, und
hoͤrt nichts, als das wilde Rauſchen der Weh-
muth. Es gibt Seelen, welche beſſer ver-

wahrt,
* Hieraus glaube ich, geht man der Frage entgegen,
die unter einigen neuen Kunſtrichtern, bald
verneint, bald bejahet iſt: ob die Ode wahre
Empfindung, oder Nachahmung ſey? Spielt
man nicht mit der ganzen Frage: ſo muß man
theilen, und fragen: iſt die Ode ein wirk-
licher Ausbruch von Leidenſchaft und
Empfindung?
unmoͤglich, wenn ich eine
Ode nach der gewoͤhnliehen Bedeutung ver-
ſtehe, ſo iſt ſie ſchon immer kuͤnſtliche Sprache.
Kann die Ode ein poetiſcher Ausdruck
einer wahren Empfindung ſeyn?
Ja,
und billig ſollte ſie es durchaus ſeyn. Kann
der poetiſche Ausdruck einer wahren
Empfindung Nachahmung heißen?
Mei-
netwegen! nur den poetiſchen Ausdruck be-
trift das Nachahmende allein; die Empfindung
bleibt die wahre, nur ſie iſt ſchon ſo gelindert,
daß die Einbildungskraft gleichſam ihren natuͤr-
lichen Ausdruck in einen Ausdruck der Kunſt
uͤbertraͤgt.
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[224/0232] gleich den Fluthen des Meeres uͤberſchwem- met: ſo ſind alle ihre ſchoͤne Auswuͤchſe von angenehmen Bildern, alle Fruͤchte nuͤtzlicher Ueberlegungen auf einmal verdecket *. Man erblickt nichts, als eine traurige Flaͤche, und hoͤrt nichts, als das wilde Rauſchen der Weh- muth. Es gibt Seelen, welche beſſer ver- wahrt, * Hieraus glaube ich, geht man der Frage entgegen, die unter einigen neuen Kunſtrichtern, bald verneint, bald bejahet iſt: ob die Ode wahre Empfindung, oder Nachahmung ſey? Spielt man nicht mit der ganzen Frage: ſo muß man theilen, und fragen: iſt die Ode ein wirk- licher Ausbruch von Leidenſchaft und Empfindung? unmoͤglich, wenn ich eine Ode nach der gewoͤhnliehen Bedeutung ver- ſtehe, ſo iſt ſie ſchon immer kuͤnſtliche Sprache. Kann die Ode ein poetiſcher Ausdruck einer wahren Empfindung ſeyn? Ja, und billig ſollte ſie es durchaus ſeyn. Kann der poetiſche Ausdruck einer wahren Empfindung Nachahmung heißen? Mei- netwegen! nur den poetiſchen Ausdruck be- trift das Nachahmende allein; die Empfindung bleibt die wahre, nur ſie iſt ſchon ſo gelindert, daß die Einbildungskraft gleichſam ihren natuͤr- lichen Ausdruck in einen Ausdruck der Kunſt uͤbertraͤgt.

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/232>, abgerufen am 24.11.2024.