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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

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immer geschienen, daß die Aufmerksamkeit,
die sich die alten Dichter durch ihre verlieb-
ten Elegien erworben haben, mehr durch unsre
Neugier, als durch derselben innere Kraft, her-
vorgebracht worden. Man ist gleichsam nach
den Anekdoten eines solchen Mannes begierig,
und will von seinen besondern Angelegenhei-
ten Nachricht haben. Man betrachtet seine
Elegien als einen kleinen Roman, darinn die
Geliebte erst spröde, dann erweicht, dann ei-
fersüchtig und ungetreu wird; und der Un-
terschied zwischen diesem Roman und den an-
dern Romanen ist der, daß in dem letztern die
Ursache dieser Erfolge weitläuftig, in der
verliebten Elegie aber nur die Wirkungen,
die sie auf das Gemüth des verliebten Dich-
ters hervorgebracht haben, erzählet werden.
Die Kunst des Dichters besteht nun darinn,
daß er diese Wirkungen rührend und ange-
nehm beschreibe. Und hieraus läßt sich zu-
gleich erklären, warum dem geliebten Gegen-
stande eine Elegie am besten gefalle. Es ist
nehmlich schmeichelhaft für ihn, Wirkungen
beschrieben zu sehen, davon er ganz allein die
Ursache ist. Andre Leser, deren Eigenliebe

nicht

immer geſchienen, daß die Aufmerkſamkeit,
die ſich die alten Dichter durch ihre verlieb-
ten Elegien erworben haben, mehr durch unſre
Neugier, als durch derſelben innere Kraft, her-
vorgebracht worden. Man iſt gleichſam nach
den Anekdoten eines ſolchen Mannes begierig,
und will von ſeinen beſondern Angelegenhei-
ten Nachricht haben. Man betrachtet ſeine
Elegien als einen kleinen Roman, darinn die
Geliebte erſt ſproͤde, dann erweicht, dann ei-
ferſuͤchtig und ungetreu wird; und der Un-
terſchied zwiſchen dieſem Roman und den an-
dern Romanen iſt der, daß in dem letztern die
Urſache dieſer Erfolge weitlaͤuftig, in der
verliebten Elegie aber nur die Wirkungen,
die ſie auf das Gemuͤth des verliebten Dich-
ters hervorgebracht haben, erzaͤhlet werden.
Die Kunſt des Dichters beſteht nun darinn,
daß er dieſe Wirkungen ruͤhrend und ange-
nehm beſchreibe. Und hieraus laͤßt ſich zu-
gleich erklaͤren, warum dem geliebten Gegen-
ſtande eine Elegie am beſten gefalle. Es iſt
nehmlich ſchmeichelhaft fuͤr ihn, Wirkungen
beſchrieben zu ſehen, davon er ganz allein die
Urſache iſt. Andre Leſer, deren Eigenliebe

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[221/0229] immer geſchienen, daß die Aufmerkſamkeit, die ſich die alten Dichter durch ihre verlieb- ten Elegien erworben haben, mehr durch unſre Neugier, als durch derſelben innere Kraft, her- vorgebracht worden. Man iſt gleichſam nach den Anekdoten eines ſolchen Mannes begierig, und will von ſeinen beſondern Angelegenhei- ten Nachricht haben. Man betrachtet ſeine Elegien als einen kleinen Roman, darinn die Geliebte erſt ſproͤde, dann erweicht, dann ei- ferſuͤchtig und ungetreu wird; und der Un- terſchied zwiſchen dieſem Roman und den an- dern Romanen iſt der, daß in dem letztern die Urſache dieſer Erfolge weitlaͤuftig, in der verliebten Elegie aber nur die Wirkungen, die ſie auf das Gemuͤth des verliebten Dich- ters hervorgebracht haben, erzaͤhlet werden. Die Kunſt des Dichters beſteht nun darinn, daß er dieſe Wirkungen ruͤhrend und ange- nehm beſchreibe. Und hieraus laͤßt ſich zu- gleich erklaͤren, warum dem geliebten Gegen- ſtande eine Elegie am beſten gefalle. Es iſt nehmlich ſchmeichelhaft fuͤr ihn, Wirkungen beſchrieben zu ſehen, davon er ganz allein die Urſache iſt. Andre Leſer, deren Eigenliebe nicht

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 221. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/229>, abgerufen am 24.11.2024.