wärtig machte, und alles, was er in der Seele siehet, selbst fühlte, und selbst in uns zu wirken wüßte; so wäre dies ein Gedicht, was alle Saiten des menschlichen Herzens treffen müßte, da Epopee und Drama nur immer eine oder wenige anrühren kann. Unsere ganze Seele würde ihm entgegen arbeiten, wenn wir theils seine ganze Seele in Aufruhr sehen, theils sein Objekt, eben auch die menschliche Seele, in aller ihrer Wirksamkeit erblickten. Wenn er sie uns, eingehüllt in die Stralen Apolls, in dem Schmuck der Dichtkunst, von Musen umgeben und von Grazien begleitet, als eine Braut des Himmels, eine zweite Eva, unsere Hälfte, entgegen führte: wie Adam würden wir auf sie zueilen, und ihrer Umar- mung entgegen jauchzen: das ist Fleisch von meinem Fleisch! Das ganze sympathetische Saitengewebe unsrer Empfindungen würde in diesen Zuruf nachschallen; denn nie rührt uns das, wo wir nicht unser Bild erblicken: dies wäre der höchste und kühnste Weg über die unbetretnen Höhen der Vernunft in das Ge- biet der Leidenschaften: es wäre vielleicht die größte Höhe des poetischen Genies in unsrer
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waͤrtig machte, und alles, was er in der Seele ſiehet, ſelbſt fuͤhlte, und ſelbſt in uns zu wirken wuͤßte; ſo waͤre dies ein Gedicht, was alle Saiten des menſchlichen Herzens treffen muͤßte, da Epopee und Drama nur immer eine oder wenige anruͤhren kann. Unſere ganze Seele wuͤrde ihm entgegen arbeiten, wenn wir theils ſeine ganze Seele in Aufruhr ſehen, theils ſein Objekt, eben auch die menſchliche Seele, in aller ihrer Wirkſamkeit erblickten. Wenn er ſie uns, eingehuͤllt in die Stralen Apolls, in dem Schmuck der Dichtkunſt, von Muſen umgeben und von Grazien begleitet, als eine Braut des Himmels, eine zweite Eva, unſere Haͤlfte, entgegen fuͤhrte: wie Adam wuͤrden wir auf ſie zueilen, und ihrer Umar- mung entgegen jauchzen: das iſt Fleiſch von meinem Fleiſch! Das ganze ſympathetiſche Saitengewebe unſrer Empfindungen wuͤrde in dieſen Zuruf nachſchallen; denn nie ruͤhrt uns das, wo wir nicht unſer Bild erblicken: dies waͤre der hoͤchſte und kuͤhnſte Weg uͤber die unbetretnen Hoͤhen der Vernunft in das Ge- biet der Leidenſchaften: es waͤre vielleicht die groͤßte Hoͤhe des poetiſchen Genies in unſrer
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waͤrtig machte, und alles, was er in der
Seele ſiehet, ſelbſt fuͤhlte, und ſelbſt in uns zu
wirken wuͤßte; ſo waͤre dies ein Gedicht, was
alle Saiten des menſchlichen Herzens treffen
muͤßte, da Epopee und Drama nur immer
eine oder wenige anruͤhren kann. Unſere ganze
Seele wuͤrde ihm entgegen arbeiten, wenn wir
theils ſeine ganze Seele in Aufruhr ſehen,
theils ſein Objekt, eben auch die menſchliche
Seele, in aller ihrer Wirkſamkeit erblickten.
Wenn er ſie uns, eingehuͤllt in die Stralen
Apolls, in dem Schmuck der Dichtkunſt, von
Muſen umgeben und von Grazien begleitet,
als eine Braut des Himmels, eine zweite Eva,
unſere Haͤlfte, entgegen fuͤhrte: wie Adam
wuͤrden wir auf ſie zueilen, und ihrer Umar-
mung entgegen jauchzen: das iſt Fleiſch von
meinem Fleiſch! Das ganze ſympathetiſche
Saitengewebe unſrer Empfindungen wuͤrde in
dieſen Zuruf nachſchallen; denn nie ruͤhrt uns
das, wo wir nicht unſer Bild erblicken: dies
waͤre der hoͤchſte und kuͤhnſte Weg uͤber die
unbetretnen Hoͤhen der Vernunft in das Ge-
biet der Leidenſchaften: es waͤre vielleicht die
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/226>, abgerufen am 18.12.2024.
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