"Fast allen neuern Oden fehlt etwas von "dem Haupttone, den die Ode haben soll. "Horaz hat den Hauptton der Ode, ich sage "nicht, des Hymnus, durch die seinigen, bis "auf jede seiner feinsten Wendungen bestimmt. "Er erschöpft alle Schönheiten, deren die "Ode fähig ist. Man wird also den Werth "einer Ode am besten ausmachen können, wenn "man sich fragt: würde Horaz diese Mate- "rie so ausgeführet haben? Aber man müßte "ein wenig strenge bei Beantwortung dieser "Frage seyn. Denn sonst bekommen wir zu "viel Horaze unsrer Zeiten. -- Jch erkläre "mich hiedurch gar nicht gegen die Ansprüche, "die besonders der lyrische Dichter auf einen "Originalcharakter hat. Jch rede nur von "der Biegsamkeit, mit der sich selbst ein Ori- "ginalgenie dem Wesentlichen, was die lyri- "sche Poesie fodert, unterwerfen muß. Und "dieses Wesentliche, behaupte ich, hat Horaz "durch seine Muster vestgesezzt" *. Ueber- haupt ist dies ganze Stück im zweiten Bande so ausnehmend, als das 26te des ersten.
Jch
* Nord. Aufs. 2 B. St. 105.
„Faſt allen neuern Oden fehlt etwas von „dem Haupttone, den die Ode haben ſoll. „Horaz hat den Hauptton der Ode, ich ſage „nicht, des Hymnus, durch die ſeinigen, bis „auf jede ſeiner feinſten Wendungen beſtimmt. „Er erſchoͤpft alle Schoͤnheiten, deren die „Ode faͤhig iſt. Man wird alſo den Werth „einer Ode am beſten ausmachen koͤnnen, wenn „man ſich fragt: wuͤrde Horaz dieſe Mate- „rie ſo ausgefuͤhret haben? Aber man muͤßte „ein wenig ſtrenge bei Beantwortung dieſer „Frage ſeyn. Denn ſonſt bekommen wir zu „viel Horaze unſrer Zeiten. — Jch erklaͤre „mich hiedurch gar nicht gegen die Anſpruͤche, „die beſonders der lyriſche Dichter auf einen „Originalcharakter hat. Jch rede nur von „der Biegſamkeit, mit der ſich ſelbſt ein Ori- „ginalgenie dem Weſentlichen, was die lyri- „ſche Poeſie fodert, unterwerfen muß. Und „dieſes Weſentliche, behaupte ich, hat Horaz „durch ſeine Muſter veſtgeſezzt„ *. Ueber- haupt iſt dies ganze Stuͤck im zweiten Bande ſo ausnehmend, als das 26te des erſten.
Jch
* Nord. Aufſ. 2 B. St. 105.
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[203/0211]
„Faſt allen neuern Oden fehlt etwas von
„dem Haupttone, den die Ode haben ſoll.
„Horaz hat den Hauptton der Ode, ich ſage
„nicht, des Hymnus, durch die ſeinigen, bis
„auf jede ſeiner feinſten Wendungen beſtimmt.
„Er erſchoͤpft alle Schoͤnheiten, deren die
„Ode faͤhig iſt. Man wird alſo den Werth
„einer Ode am beſten ausmachen koͤnnen, wenn
„man ſich fragt: wuͤrde Horaz dieſe Mate-
„rie ſo ausgefuͤhret haben? Aber man muͤßte
„ein wenig ſtrenge bei Beantwortung dieſer
„Frage ſeyn. Denn ſonſt bekommen wir zu
„viel Horaze unſrer Zeiten. — Jch erklaͤre
„mich hiedurch gar nicht gegen die Anſpruͤche,
„die beſonders der lyriſche Dichter auf einen
„Originalcharakter hat. Jch rede nur von
„der Biegſamkeit, mit der ſich ſelbſt ein Ori-
„ginalgenie dem Weſentlichen, was die lyri-
„ſche Poeſie fodert, unterwerfen muß. Und
„dieſes Weſentliche, behaupte ich, hat Horaz
„durch ſeine Muſter veſtgeſezzt„ *. Ueber-
haupt iſt dies ganze Stuͤck im zweiten Bande
ſo ausnehmend, als das 26te des erſten.
Jch
* Nord. Aufſ. 2 B. St. 105.
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/211>, abgerufen am 24.11.2024.
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