Leßingsche Fabel: Zevs und das Pferd,* die vor unsern Augen das Kameel schaffet: jene **, die den Eseln zum Trost die harte Haut anzieht, jene ***, die es uns aus dem Rath der Götter erklärt, warum das Schaaf unbewaffnet ist, woher den Ziegen der Bart entstanden **** u. s. w. sind kleine Anekdoten eines Dichters, der gleichsam ein Zeuge und Bote der Götter, und Erklärer der Natur ist. So erzält uns Gerstenberg den Ursprung des Kusses, der Syrene, und des Bärt- chens, welches letztere aber die Litterat. Br. glücklich von dem Munde der Schönen weg- geküsset haben. So sind Ovids Verwandlun- gen in diesem Betracht voll poetisches Erfin- dungsgeistes. Kurz! aus der alten Mytho- logie eine Wahrnehmung, eine Erfindung, ei- ne Begebenheit, poetisch wahrscheinlich und poetisch schön zu erklären -- dieses ist, wie ich glaube, der am meisten dichterische Ge- brauch der Fabellehre, und der Quell zu den schönsten und reizendsten Fiktionen.
Die-
* 1 B. 5 Fabel.
** 2 B. Fab. 10.
*** 2 B. Fab. 18.
**** 2 B. Fab. 24.
L 3
Leßingſche Fabel: Zevs und das Pferd,* die vor unſern Augen das Kameel ſchaffet: jene **, die den Eſeln zum Troſt die harte Haut anzieht, jene ***, die es uns aus dem Rath der Goͤtter erklaͤrt, warum das Schaaf unbewaffnet iſt, woher den Ziegen der Bart entſtanden **** u. ſ. w. ſind kleine Anekdoten eines Dichters, der gleichſam ein Zeuge und Bote der Goͤtter, und Erklaͤrer der Natur iſt. So erzaͤlt uns Gerſtenberg den Urſprung des Kuſſes, der Syrene, und des Baͤrt- chens, welches letztere aber die Litterat. Br. gluͤcklich von dem Munde der Schoͤnen weg- gekuͤſſet haben. So ſind Ovids Verwandlun- gen in dieſem Betracht voll poetiſches Erfin- dungsgeiſtes. Kurz! aus der alten Mytho- logie eine Wahrnehmung, eine Erfindung, ei- ne Begebenheit, poetiſch wahrſcheinlich und poetiſch ſchoͤn zu erklaͤren — dieſes iſt, wie ich glaube, der am meiſten dichteriſche Ge- brauch der Fabellehre, und der Quell zu den ſchoͤnſten und reizendſten Fiktionen.
Die-
* 1 B. 5 Fabel.
** 2 B. Fab. 10.
*** 2 B. Fab. 18.
**** 2 B. Fab. 24.
L 3
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><p><pbfacs="#f0173"n="165"/>
Leßingſche Fabel: <hirendition="#fr">Zevs und das Pferd,</hi><noteplace="foot"n="*">1 B. 5 Fabel.</note><lb/>
die vor unſern Augen das Kameel ſchaffet:<lb/>
jene <noteplace="foot"n="**">2 B. Fab. 10.</note>, die den Eſeln zum Troſt die harte<lb/>
Haut anzieht, jene <noteplace="foot"n="***">2 B. Fab. 18.</note>, die es uns aus dem<lb/>
Rath der Goͤtter erklaͤrt, warum das Schaaf<lb/>
unbewaffnet iſt, woher den Ziegen der Bart<lb/>
entſtanden <noteplace="foot"n="****">2 B. Fab. 24.</note> u. ſ. w. ſind kleine Anekdoten<lb/>
eines Dichters, der gleichſam ein Zeuge und<lb/>
Bote der Goͤtter, und Erklaͤrer der Natur iſt.<lb/>
So erzaͤlt uns <hirendition="#fr">Gerſtenberg</hi> den Urſprung<lb/>
des <hirendition="#fr">Kuſſes,</hi> der <hirendition="#fr">Syrene,</hi> und des <hirendition="#fr">Baͤrt-<lb/>
chens,</hi> welches letztere aber die Litterat. Br.<lb/>
gluͤcklich von dem Munde der Schoͤnen weg-<lb/>
gekuͤſſet haben. So ſind Ovids Verwandlun-<lb/>
gen in dieſem Betracht voll poetiſches Erfin-<lb/>
dungsgeiſtes. Kurz! aus der alten Mytho-<lb/>
logie eine Wahrnehmung, eine Erfindung, ei-<lb/>
ne Begebenheit, poetiſch wahrſcheinlich und<lb/>
poetiſch ſchoͤn zu erklaͤren — dieſes iſt, wie<lb/>
ich glaube, der am meiſten dichteriſche Ge-<lb/>
brauch der Fabellehre, und der Quell zu den<lb/>ſchoͤnſten und reizendſten Fiktionen.</p><lb/><fwplace="bottom"type="sig">L 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">Die-</fw><lb/></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[165/0173]
Leßingſche Fabel: Zevs und das Pferd, *
die vor unſern Augen das Kameel ſchaffet:
jene **, die den Eſeln zum Troſt die harte
Haut anzieht, jene ***, die es uns aus dem
Rath der Goͤtter erklaͤrt, warum das Schaaf
unbewaffnet iſt, woher den Ziegen der Bart
entſtanden **** u. ſ. w. ſind kleine Anekdoten
eines Dichters, der gleichſam ein Zeuge und
Bote der Goͤtter, und Erklaͤrer der Natur iſt.
So erzaͤlt uns Gerſtenberg den Urſprung
des Kuſſes, der Syrene, und des Baͤrt-
chens, welches letztere aber die Litterat. Br.
gluͤcklich von dem Munde der Schoͤnen weg-
gekuͤſſet haben. So ſind Ovids Verwandlun-
gen in dieſem Betracht voll poetiſches Erfin-
dungsgeiſtes. Kurz! aus der alten Mytho-
logie eine Wahrnehmung, eine Erfindung, ei-
ne Begebenheit, poetiſch wahrſcheinlich und
poetiſch ſchoͤn zu erklaͤren — dieſes iſt, wie
ich glaube, der am meiſten dichteriſche Ge-
brauch der Fabellehre, und der Quell zu den
ſchoͤnſten und reizendſten Fiktionen.
Die-
* 1 B. 5 Fabel.
** 2 B. Fab. 10.
*** 2 B. Fab. 18.
**** 2 B. Fab. 24.
L 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/173>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.