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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

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Leßingsche Fabel: Zevs und das Pferd, *
die vor unsern Augen das Kameel schaffet:
jene **, die den Eseln zum Trost die harte
Haut anzieht, jene ***, die es uns aus dem
Rath der Götter erklärt, warum das Schaaf
unbewaffnet ist, woher den Ziegen der Bart
entstanden **** u. s. w. sind kleine Anekdoten
eines Dichters, der gleichsam ein Zeuge und
Bote der Götter, und Erklärer der Natur ist.
So erzält uns Gerstenberg den Ursprung
des Kusses, der Syrene, und des Bärt-
chens,
welches letztere aber die Litterat. Br.
glücklich von dem Munde der Schönen weg-
geküsset haben. So sind Ovids Verwandlun-
gen in diesem Betracht voll poetisches Erfin-
dungsgeistes. Kurz! aus der alten Mytho-
logie eine Wahrnehmung, eine Erfindung, ei-
ne Begebenheit, poetisch wahrscheinlich und
poetisch schön zu erklären -- dieses ist, wie
ich glaube, der am meisten dichterische Ge-
brauch der Fabellehre, und der Quell zu den
schönsten und reizendsten Fiktionen.

Die-
* 1 B. 5 Fabel.
** 2 B. Fab. 10.
*** 2 B. Fab. 18.
**** 2 B. Fab. 24.
L 3

Leßingſche Fabel: Zevs und das Pferd, *
die vor unſern Augen das Kameel ſchaffet:
jene **, die den Eſeln zum Troſt die harte
Haut anzieht, jene ***, die es uns aus dem
Rath der Goͤtter erklaͤrt, warum das Schaaf
unbewaffnet iſt, woher den Ziegen der Bart
entſtanden **** u. ſ. w. ſind kleine Anekdoten
eines Dichters, der gleichſam ein Zeuge und
Bote der Goͤtter, und Erklaͤrer der Natur iſt.
So erzaͤlt uns Gerſtenberg den Urſprung
des Kuſſes, der Syrene, und des Baͤrt-
chens,
welches letztere aber die Litterat. Br.
gluͤcklich von dem Munde der Schoͤnen weg-
gekuͤſſet haben. So ſind Ovids Verwandlun-
gen in dieſem Betracht voll poetiſches Erfin-
dungsgeiſtes. Kurz! aus der alten Mytho-
logie eine Wahrnehmung, eine Erfindung, ei-
ne Begebenheit, poetiſch wahrſcheinlich und
poetiſch ſchoͤn zu erklaͤren — dieſes iſt, wie
ich glaube, der am meiſten dichteriſche Ge-
brauch der Fabellehre, und der Quell zu den
ſchoͤnſten und reizendſten Fiktionen.

Die-
* 1 B. 5 Fabel.
** 2 B. Fab. 10.
*** 2 B. Fab. 18.
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[165/0173] Leßingſche Fabel: Zevs und das Pferd, * die vor unſern Augen das Kameel ſchaffet: jene **, die den Eſeln zum Troſt die harte Haut anzieht, jene ***, die es uns aus dem Rath der Goͤtter erklaͤrt, warum das Schaaf unbewaffnet iſt, woher den Ziegen der Bart entſtanden **** u. ſ. w. ſind kleine Anekdoten eines Dichters, der gleichſam ein Zeuge und Bote der Goͤtter, und Erklaͤrer der Natur iſt. So erzaͤlt uns Gerſtenberg den Urſprung des Kuſſes, der Syrene, und des Baͤrt- chens, welches letztere aber die Litterat. Br. gluͤcklich von dem Munde der Schoͤnen weg- gekuͤſſet haben. So ſind Ovids Verwandlun- gen in dieſem Betracht voll poetiſches Erfin- dungsgeiſtes. Kurz! aus der alten Mytho- logie eine Wahrnehmung, eine Erfindung, ei- ne Begebenheit, poetiſch wahrſcheinlich und poetiſch ſchoͤn zu erklaͤren — dieſes iſt, wie ich glaube, der am meiſten dichteriſche Ge- brauch der Fabellehre, und der Quell zu den ſchoͤnſten und reizendſten Fiktionen. Die- * 1 B. 5 Fabel. ** 2 B. Fab. 10. *** 2 B. Fab. 18. **** 2 B. Fab. 24. L 3

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/173>, abgerufen am 24.11.2024.