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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

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tist zu zeigen, um eine mythologische Ode ge-
macht zu haben? -- Ganz und gar nicht!
seine Mythologie ist Geschichte des Vater-
landes, Geschichte der Vaterstadt, Fa-
milien- und Ahnenstolz seines Helden, Ur-
sprung des Vorfalls,
den er besingt. Und
was wird also sein Gesang, ein heiliges
National-Sekular- und Patronymisches
Lied, das werth war, in dem Tempel des
Gottes,
und in den Archiven der Stadt,
die er sang, mit goldnen Buchstaben geschrie-
ben, aufbewahret zu werden; ein Familien-
stück für ein Geschlecht, und mehr als eine
Bildsäule für den Helden, wie der edle Stolz
des Pindars selbst wußte.

Haben wir zu unsrer Zeit solche Dichter,
die das für den Vorfall, die Person, das Zeit-
alter, für welches sie singen, sind und seyn
werden? Ein andrer antworte für mich;
aber -- was ist die Pindarische Ode auf den
Tod des Kaisers Franz gegen eine Pindari-
sche auf einen Jüngling, der blos gut laufen
konnte? Nichts!

Zweitens: ein großer Theil der Mytholo-
gie ist Allegorie! personificirte Natur, oder

ein-

tiſt zu zeigen, um eine mythologiſche Ode ge-
macht zu haben? — Ganz und gar nicht!
ſeine Mythologie iſt Geſchichte des Vater-
landes, Geſchichte der Vaterſtadt, Fa-
milien- und Ahnenſtolz ſeines Helden, Ur-
ſprung des Vorfalls,
den er beſingt. Und
was wird alſo ſein Geſang, ein heiliges
National-Sekular- und Patronymiſches
Lied, das werth war, in dem Tempel des
Gottes,
und in den Archiven der Stadt,
die er ſang, mit goldnen Buchſtaben geſchrie-
ben, aufbewahret zu werden; ein Familien-
ſtuͤck fuͤr ein Geſchlecht, und mehr als eine
Bildſaͤule fuͤr den Helden, wie der edle Stolz
des Pindars ſelbſt wußte.

Haben wir zu unſrer Zeit ſolche Dichter,
die das fuͤr den Vorfall, die Perſon, das Zeit-
alter, fuͤr welches ſie ſingen, ſind und ſeyn
werden? Ein andrer antworte fuͤr mich;
aber — was iſt die Pindariſche Ode auf den
Tod des Kaiſers Franz gegen eine Pindari-
ſche auf einen Juͤngling, der blos gut laufen
konnte? Nichts!

Zweitens: ein großer Theil der Mytholo-
gie iſt Allegorie! perſonificirte Natur, oder

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[156/0164] tiſt zu zeigen, um eine mythologiſche Ode ge- macht zu haben? — Ganz und gar nicht! ſeine Mythologie iſt Geſchichte des Vater- landes, Geſchichte der Vaterſtadt, Fa- milien- und Ahnenſtolz ſeines Helden, Ur- ſprung des Vorfalls, den er beſingt. Und was wird alſo ſein Geſang, ein heiliges National-Sekular- und Patronymiſches Lied, das werth war, in dem Tempel des Gottes, und in den Archiven der Stadt, die er ſang, mit goldnen Buchſtaben geſchrie- ben, aufbewahret zu werden; ein Familien- ſtuͤck fuͤr ein Geſchlecht, und mehr als eine Bildſaͤule fuͤr den Helden, wie der edle Stolz des Pindars ſelbſt wußte. Haben wir zu unſrer Zeit ſolche Dichter, die das fuͤr den Vorfall, die Perſon, das Zeit- alter, fuͤr welches ſie ſingen, ſind und ſeyn werden? Ein andrer antworte fuͤr mich; aber — was iſt die Pindariſche Ode auf den Tod des Kaiſers Franz gegen eine Pindari- ſche auf einen Juͤngling, der blos gut laufen konnte? Nichts! Zweitens: ein großer Theil der Mytholo- gie iſt Allegorie! perſonificirte Natur, oder ein-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/164>, abgerufen am 21.11.2024.