So sagt ein neuerer Schriftsteller: "ich er- "kannte Sie, ob ich gleich kein Marcell bin!" Warum denn Marcell? Als ein rascher, dreuster, feuriger Held ist mir Marcell zwar bekannt, als der Erbauer des Tempels der Tugend und Ehre auch: aber was thut das hier? Endlich fand ich, Marcell habe einmal nicht aus Rom ausreisen wollen, weil er auf Zeichen gehalten: nun verstand ichs, aber das hatte ich aus meinem Plutarch längst vergessen.
Man muß die Mythologie nicht außer ih- rem Zweck brauchen: dahin gehört, wenn man ihr einigen Religionswerth beizulegen scheint. Man legt etwas in den Mund eines Gottes, damit es Gewicht der Glaubwürdigkeit und Wahrheit bekomme: oder man thut Wünsche, an diesen oder jenen Gott, von ganzem einfäl- tigen Herzen. Dies ist lächerlich, es sey denn, daß diese Wesen personificirte Dinge der Welt, oder allegorische Personen sind; als solche müssen sie aber offenbar auftreten: sonst rückt man sie aus der dichterischen Sphäre, in das Gebiet der strengen Wahrheit, und da sind sie nicht zu Hause.
Man
So ſagt ein neuerer Schriftſteller: „ich er- „kannte Sie, ob ich gleich kein Marcell bin!„ Warum denn Marcell? Als ein raſcher, dreuſter, feuriger Held iſt mir Marcell zwar bekannt, als der Erbauer des Tempels der Tugend und Ehre auch: aber was thut das hier? Endlich fand ich, Marcell habe einmal nicht aus Rom ausreiſen wollen, weil er auf Zeichen gehalten: nun verſtand ichs, aber das hatte ich aus meinem Plutarch laͤngſt vergeſſen.
Man muß die Mythologie nicht außer ih- rem Zweck brauchen: dahin gehoͤrt, wenn man ihr einigen Religionswerth beizulegen ſcheint. Man legt etwas in den Mund eines Gottes, damit es Gewicht der Glaubwuͤrdigkeit und Wahrheit bekomme: oder man thut Wuͤnſche, an dieſen oder jenen Gott, von ganzem einfaͤl- tigen Herzen. Dies iſt laͤcherlich, es ſey denn, daß dieſe Weſen perſonificirte Dinge der Welt, oder allegoriſche Perſonen ſind; als ſolche muͤſſen ſie aber offenbar auftreten: ſonſt ruͤckt man ſie aus der dichteriſchen Sphaͤre, in das Gebiet der ſtrengen Wahrheit, und da ſind ſie nicht zu Hauſe.
Man
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So ſagt ein neuerer Schriftſteller: „ich er-
„kannte Sie, ob ich gleich kein Marcell bin!„
Warum denn Marcell? Als ein raſcher,
dreuſter, feuriger Held iſt mir Marcell
zwar bekannt, als der Erbauer des Tempels
der Tugend und Ehre auch: aber was thut
das hier? Endlich fand ich, Marcell habe
einmal nicht aus Rom ausreiſen wollen, weil
er auf Zeichen gehalten: nun verſtand ichs,
aber das hatte ich aus meinem Plutarch
laͤngſt vergeſſen.
Man muß die Mythologie nicht außer ih-
rem Zweck brauchen: dahin gehoͤrt, wenn man
ihr einigen Religionswerth beizulegen ſcheint.
Man legt etwas in den Mund eines Gottes,
damit es Gewicht der Glaubwuͤrdigkeit und
Wahrheit bekomme: oder man thut Wuͤnſche,
an dieſen oder jenen Gott, von ganzem einfaͤl-
tigen Herzen. Dies iſt laͤcherlich, es ſey denn,
daß dieſe Weſen perſonificirte Dinge der Welt,
oder allegoriſche Perſonen ſind; als ſolche
muͤſſen ſie aber offenbar auftreten: ſonſt ruͤckt
man ſie aus der dichteriſchen Sphaͤre, in das
Gebiet der ſtrengen Wahrheit, und da ſind
ſie nicht zu Hauſe.
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/158>, abgerufen am 21.11.2024.
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