Es ist eine leere Furcht, ohne alte Mytho- logie werde man schlechtere und frostigere Verse machen: Tantam rerum, quae ho- die est, facies sententiarum novarum et imaginum copiam praebet, vt homini ingenioso, numquam deesse possint, qui- bus exornet carmina*. Hier muß ich erst wissen, was fodert die Dichtkunst; und wie weit kann ich ohne Mythologie dies erreichen? Man denke nicht, daß ich aus der Erklärung der Poesie das Jdeal im Allgemeinen bestim- men werde; ich sehe blos die Foderungen der Poesie an, so fern sie mit der Mythologie gränzen, oder nicht. So bald es in der Dichtkunst auf mehr ankömmt, als auf Verse machen, und fließend reimen: so kann sie entweder für den Verstand reden, oder für die Einbildungskraft: für diese, um sie blos kalt zu vergnügen, oder zu rühren, und gleichsam zu täuschen. Dies, glaube ich, ist die psychologische Eintheilung derselben.
Wenn
*Epist. Homer. p. 126.
J 5
3.
Es iſt eine leere Furcht, ohne alte Mytho- logie werde man ſchlechtere und froſtigere Verſe machen: Tantam rerum, quae ho- die eſt, facies ſententiarum novarum et imaginum copiam praebet, vt homini ingenioſo, numquam deeſſe poſſint, qui- bus exornet carmina*. Hier muß ich erſt wiſſen, was fodert die Dichtkunſt; und wie weit kann ich ohne Mythologie dies erreichen? Man denke nicht, daß ich aus der Erklaͤrung der Poeſie das Jdeal im Allgemeinen beſtim- men werde; ich ſehe blos die Foderungen der Poeſie an, ſo fern ſie mit der Mythologie graͤnzen, oder nicht. So bald es in der Dichtkunſt auf mehr ankoͤmmt, als auf Verſe machen, und fließend reimen: ſo kann ſie entweder fuͤr den Verſtand reden, oder fuͤr die Einbildungskraft: fuͤr dieſe, um ſie blos kalt zu vergnuͤgen, oder zu ruͤhren, und gleichſam zu taͤuſchen. Dies, glaube ich, iſt die pſychologiſche Eintheilung derſelben.
Wenn
*Epiſt. Homer. p. 126.
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Es iſt eine leere Furcht, ohne alte Mytho-
logie werde man ſchlechtere und froſtigere
Verſe machen: Tantam rerum, quae ho-
die eſt, facies ſententiarum novarum et
imaginum copiam praebet, vt homini
ingenioſo, numquam deeſſe poſſint, qui-
bus exornet carmina *. Hier muß ich erſt
wiſſen, was fodert die Dichtkunſt; und wie
weit kann ich ohne Mythologie dies erreichen?
Man denke nicht, daß ich aus der Erklaͤrung
der Poeſie das Jdeal im Allgemeinen beſtim-
men werde; ich ſehe blos die Foderungen der
Poeſie an, ſo fern ſie mit der Mythologie
graͤnzen, oder nicht. So bald es in der
Dichtkunſt auf mehr ankoͤmmt, als auf Verſe
machen, und fließend reimen: ſo kann ſie
entweder fuͤr den Verſtand reden, oder fuͤr
die Einbildungskraft: fuͤr dieſe, um ſie blos
kalt zu vergnuͤgen, oder zu ruͤhren, und
gleichſam zu taͤuſchen. Dies, glaube ich, iſt
die pſychologiſche Eintheilung derſelben.
Wenn
* Epiſt. Homer. p. 126.
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/145>, abgerufen am 24.11.2024.
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