Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

Bild:
<< vorherige Seite


wir im gemeinen Leben verständlich und deut-
lich
für einerlei halten, weil wir vom letztem
in ihm wenig wissen.

Die Weltweisheit also, die von eigensin-
nigen Bestimmungen
anfängt, sich hernach
so gleich hinter barbarische Kunstwörter ver-
steckt, um ihren vorangesetzten Eigensinn zu
beweisen, ist nicht meine Muse, denn sie ver-
achtet den gemeinen Verstand, dessen Wor-
te sie verwirft: sie hat sich aus der Sphäre
des Lebens in die Atmosphäre der Katheder
versezzt. Bildend ist sie nicht, und wenn sie
auch wahr wäre, unnützlich. -- Aber die
Weltweisheit ist die Abgöttinn meines Her-
zens, die zuerst den sinnlichen Verstand lei-
tet, sich zu seiner Sprache herabläßt, mit ihm
gehet, ihn nach und nach mehr erhebet, und
ihm endlich in der Sphäre der Vernunft
mit allem Glanz der Deutlichkeit erschei-
net, und verschwindet.

Daß diese Art zu philosophirn schwer sey,
ist offenbar, denn sie kann nicht mit Worten
spielen, wie die Arithmetik mit Zeichen, wo-
bei man die bezeichnete Sache vergessen kann.
Sie soll den Begriff eben von seiner Hülle ab-

sondern,


wir im gemeinen Leben verstaͤndlich und deut-
lich
fuͤr einerlei halten, weil wir vom letztem
in ihm wenig wissen.

Die Weltweisheit also, die von eigensin-
nigen Bestimmungen
anfaͤngt, sich hernach
so gleich hinter barbarische Kunstwoͤrter ver-
steckt, um ihren vorangesetzten Eigensinn zu
beweisen, ist nicht meine Muse, denn sie ver-
achtet den gemeinen Verstand, dessen Wor-
te sie verwirft: sie hat sich aus der Sphaͤre
des Lebens in die Atmosphaͤre der Katheder
versezzt. Bildend ist sie nicht, und wenn sie
auch wahr waͤre, unnuͤtzlich. — Aber die
Weltweisheit ist die Abgoͤttinn meines Her-
zens, die zuerst den sinnlichen Verstand lei-
tet, sich zu seiner Sprache herablaͤßt, mit ihm
gehet, ihn nach und nach mehr erhebet, und
ihm endlich in der Sphaͤre der Vernunft
mit allem Glanz der Deutlichkeit erschei-
net, und verschwindet.

Daß diese Art zu philosophirn schwer sey,
ist offenbar, denn sie kann nicht mit Worten
spielen, wie die Arithmetik mit Zeichen, wo-
bei man die bezeichnete Sache vergessen kann.
Sie soll den Begriff eben von seiner Huͤlle ab-

ſondern,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0118" n="110"/><lb/>
wir im gemeinen Leben <hi rendition="#fr">versta&#x0364;ndlich</hi> und <hi rendition="#fr">deut-<lb/>
lich</hi> fu&#x0364;r einerlei halten, weil wir vom <hi rendition="#fr">letztem</hi><lb/>
in ihm wenig wissen.</p><lb/>
                <p>Die Weltweisheit also, die von <hi rendition="#fr">eigensin-<lb/>
nigen Bestimmungen</hi> anfa&#x0364;ngt, sich hernach<lb/>
so gleich hinter barbarische Kunstwo&#x0364;rter ver-<lb/>
steckt, um ihren vorangesetzten Eigensinn zu<lb/>
beweisen, ist nicht meine Muse, denn sie ver-<lb/>
achtet den <hi rendition="#fr">gemeinen Verstand</hi>, dessen Wor-<lb/>
te sie verwirft: sie hat sich aus der <hi rendition="#fr">Spha&#x0364;re</hi><lb/>
des Lebens in die <hi rendition="#fr">Atmospha&#x0364;re</hi> der Katheder<lb/>
versezzt. Bildend ist sie nicht, und wenn sie<lb/>
auch wahr wa&#x0364;re, unnu&#x0364;tzlich. &#x2014; Aber die<lb/>
Weltweisheit ist die Abgo&#x0364;ttinn meines Her-<lb/>
zens, die zuerst den <hi rendition="#fr">sinnlichen Verstand</hi> lei-<lb/>
tet, sich zu seiner Sprache herabla&#x0364;ßt, mit ihm<lb/>
gehet, ihn nach und nach mehr erhebet, und<lb/>
ihm endlich in der <hi rendition="#fr">Spha&#x0364;re der Vernunft</hi><lb/>
mit allem <hi rendition="#fr">Glanz der Deutlichkeit</hi> erschei-<lb/>
net, und verschwindet.</p><lb/>
                <p>Daß diese Art zu philosophirn schwer sey,<lb/>
ist offenbar, denn sie kann nicht mit Worten<lb/>
spielen, wie die Arithmetik mit Zeichen, wo-<lb/>
bei man die bezeichnete Sache vergessen kann.<lb/>
Sie soll den Begriff eben von seiner Hu&#x0364;lle ab-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;ondern,</fw><lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[110/0118] wir im gemeinen Leben verstaͤndlich und deut- lich fuͤr einerlei halten, weil wir vom letztem in ihm wenig wissen. Die Weltweisheit also, die von eigensin- nigen Bestimmungen anfaͤngt, sich hernach so gleich hinter barbarische Kunstwoͤrter ver- steckt, um ihren vorangesetzten Eigensinn zu beweisen, ist nicht meine Muse, denn sie ver- achtet den gemeinen Verstand, dessen Wor- te sie verwirft: sie hat sich aus der Sphaͤre des Lebens in die Atmosphaͤre der Katheder versezzt. Bildend ist sie nicht, und wenn sie auch wahr waͤre, unnuͤtzlich. — Aber die Weltweisheit ist die Abgoͤttinn meines Her- zens, die zuerst den sinnlichen Verstand lei- tet, sich zu seiner Sprache herablaͤßt, mit ihm gehet, ihn nach und nach mehr erhebet, und ihm endlich in der Sphaͤre der Vernunft mit allem Glanz der Deutlichkeit erschei- net, und verschwindet. Daß diese Art zu philosophirn schwer sey, ist offenbar, denn sie kann nicht mit Worten spielen, wie die Arithmetik mit Zeichen, wo- bei man die bezeichnete Sache vergessen kann. Sie soll den Begriff eben von seiner Huͤlle ab- ſondern,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/118
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/118>, abgerufen am 24.11.2024.