terschied in der Bedeutung; ich sage das schielend, was der Römer ganz sagte! -- Hier gehörte ein ganz ander Wort hin, das mir aber nicht beifiel, oder das nicht in die- sem Autor steht, oder das ich gar nicht in einem Autor finde. -- Und denn? wo ha- ben wir das griechische oder römische Ohr zur Lenkung des Perioden? Wir ordnen ihn nach grammatischen Regeln, oder halten ihn, welches noch ärger ist, für ganz und gar frei und willkührlich? -- Und wo haben wir den lebendigen Wohllaut in unsrer Gewalt, die wir nach prosodischen Regeln schreiben, bald es für Kunst halten, ohne Elisionen, bald es für erlaubt halten, mit den härtesten Elisionen zu schreiben, nicht den hohen Wohl- klang hören, in dem die Alten sangen, und ihn also auch nie so genau treffen können, nicht das Geheimniß des prosaischen und poeti- schen Perioden verstehen können, weil wir blos aus todten Buchstaben lernen, nicht die stolze Anordnung der Bilder verstehen, die Leben in die Sprache bringt. Würde sich nicht oft ein Römer quälen müssen, um unsern neuern Perioden zu lesen, unsern nachge-
ahmten
terſchied in der Bedeutung; ich ſage das ſchielend, was der Roͤmer ganz ſagte! — Hier gehoͤrte ein ganz ander Wort hin, das mir aber nicht beifiel, oder das nicht in die- ſem Autor ſteht, oder das ich gar nicht in einem Autor finde. — Und denn? wo ha- ben wir das griechiſche oder roͤmiſche Ohr zur Lenkung des Perioden? Wir ordnen ihn nach grammatiſchen Regeln, oder halten ihn, welches noch aͤrger iſt, fuͤr ganz und gar frei und willkuͤhrlich? — Und wo haben wir den lebendigen Wohllaut in unſrer Gewalt, die wir nach proſodiſchen Regeln ſchreiben, bald es fuͤr Kunſt halten, ohne Eliſionen, bald es fuͤr erlaubt halten, mit den haͤrteſten Eliſionen zu ſchreiben, nicht den hohen Wohl- klang hoͤren, in dem die Alten ſangen, und ihn alſo auch nie ſo genau treffen koͤnnen, nicht das Geheimniß des proſaiſchen und poeti- ſchen Perioden verſtehen koͤnnen, weil wir blos aus todten Buchſtaben lernen, nicht die ſtolze Anordnung der Bilder verſtehen, die Leben in die Sprache bringt. Wuͤrde ſich nicht oft ein Roͤmer quaͤlen muͤſſen, um unſern neuern Perioden zu leſen, unſern nachge-
ahmten
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><p><pbfacs="#f0103"n="95"/>
terſchied in der <hirendition="#fr">Bedeutung;</hi> ich ſage das<lb/><hirendition="#fr">ſchielend,</hi> was der Roͤmer ganz ſagte! —<lb/>
Hier gehoͤrte ein ganz ander Wort hin, das<lb/>
mir aber nicht beifiel, oder das nicht in die-<lb/>ſem Autor ſteht, oder das ich gar nicht in<lb/>
einem Autor finde. — Und denn? wo ha-<lb/>
ben wir das griechiſche oder roͤmiſche Ohr zur<lb/><hirendition="#fr">Lenkung des Perioden?</hi> Wir ordnen ihn<lb/>
nach grammatiſchen Regeln, oder halten ihn,<lb/>
welches noch aͤrger iſt, fuͤr ganz und gar frei<lb/>
und willkuͤhrlich? — Und wo haben wir den<lb/><hirendition="#fr">lebendigen Wohllaut</hi> in unſrer Gewalt, die<lb/>
wir nach <hirendition="#fr">proſodiſchen Regeln</hi>ſchreiben,<lb/>
bald es fuͤr Kunſt halten, ohne Eliſionen,<lb/>
bald es fuͤr erlaubt halten, mit den haͤrteſten<lb/>
Eliſionen zu ſchreiben, nicht den hohen Wohl-<lb/>
klang hoͤren, in dem die Alten ſangen, und<lb/>
ihn alſo auch nie ſo genau treffen koͤnnen, nicht<lb/><hirendition="#fr">das Geheimniß</hi> des proſaiſchen und poeti-<lb/>ſchen Perioden <hirendition="#fr">verſtehen koͤnnen,</hi> weil wir<lb/>
blos aus todten Buchſtaben lernen, nicht die<lb/><hirendition="#fr">ſtolze Anordnung</hi> der Bilder verſtehen, die<lb/><hirendition="#fr">Leben in die Sprache</hi> bringt. Wuͤrde ſich<lb/>
nicht oft ein Roͤmer quaͤlen muͤſſen, um unſern<lb/><hirendition="#fr">neuern Perioden</hi> zu leſen, unſern <hirendition="#fr">nachge-</hi><lb/><fwplace="bottom"type="catch"><hirendition="#fr">ahmten</hi></fw><lb/></p></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[95/0103]
terſchied in der Bedeutung; ich ſage das
ſchielend, was der Roͤmer ganz ſagte! —
Hier gehoͤrte ein ganz ander Wort hin, das
mir aber nicht beifiel, oder das nicht in die-
ſem Autor ſteht, oder das ich gar nicht in
einem Autor finde. — Und denn? wo ha-
ben wir das griechiſche oder roͤmiſche Ohr zur
Lenkung des Perioden? Wir ordnen ihn
nach grammatiſchen Regeln, oder halten ihn,
welches noch aͤrger iſt, fuͤr ganz und gar frei
und willkuͤhrlich? — Und wo haben wir den
lebendigen Wohllaut in unſrer Gewalt, die
wir nach proſodiſchen Regeln ſchreiben,
bald es fuͤr Kunſt halten, ohne Eliſionen,
bald es fuͤr erlaubt halten, mit den haͤrteſten
Eliſionen zu ſchreiben, nicht den hohen Wohl-
klang hoͤren, in dem die Alten ſangen, und
ihn alſo auch nie ſo genau treffen koͤnnen, nicht
das Geheimniß des proſaiſchen und poeti-
ſchen Perioden verſtehen koͤnnen, weil wir
blos aus todten Buchſtaben lernen, nicht die
ſtolze Anordnung der Bilder verſtehen, die
Leben in die Sprache bringt. Wuͤrde ſich
nicht oft ein Roͤmer quaͤlen muͤſſen, um unſern
neuern Perioden zu leſen, unſern nachge-
ahmten
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/103>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.