möchte: so fehlt uns doch noch immer zu viel, unsern dichterischen Stoff bis auf klei- ne Nuancen aus ihrer Geschichte zu borgen. Unser Publikum, das die Juden blos aus ei- nem Hübner oder Jken kennet, wird einen ewigen Commentar nöthig haben, und Schön- heiten, die für das Auge dastehen, mit dem Fernglase ansehen müssen. Und der Dichter selbst wird Mühe genug haben, in den Orien- talischen Gedichten die beständigen feinen An- spielungen auf ihre Rettungen von Feinden, auf ihre Urväter, auf die Aegyptische Erret- tung, auf ihre Reise durch die Wüste u. s. w. nur überall bemerken zu können; nur höch- stens die Hälfte von ihnen zu verlieren. Sie ganz besitzen zu wollen, ihre Schilderung selbst zu übernehmen -- das thut nur der, so das Lächerliche einer halbgetroffenen Nachah- mung nicht einsieht. Wer hätte uns eher den Moses im Heldengedichte singen können, als Michaelis; und dennoch ließ er ihn liegen, nach der weisen Horazischen Regel:
Si quae desperas tractata nitescere posse - - - relinque.
Könn-
P
moͤchte: ſo fehlt uns doch noch immer zu viel, unſern dichteriſchen Stoff bis auf klei- ne Nuancen aus ihrer Geſchichte zu borgen. Unſer Publikum, das die Juden blos aus ei- nem Huͤbner oder Jken kennet, wird einen ewigen Commentar noͤthig haben, und Schoͤn- heiten, die fuͤr das Auge daſtehen, mit dem Fernglaſe anſehen muͤſſen. Und der Dichter ſelbſt wird Muͤhe genug haben, in den Orien- taliſchen Gedichten die beſtaͤndigen feinen An- ſpielungen auf ihre Rettungen von Feinden, auf ihre Urvaͤter, auf die Aegyptiſche Erret- tung, auf ihre Reiſe durch die Wuͤſte u. ſ. w. nur uͤberall bemerken zu koͤnnen; nur hoͤch- ſtens die Haͤlfte von ihnen zu verlieren. Sie ganz beſitzen zu wollen, ihre Schilderung ſelbſt zu uͤbernehmen — das thut nur der, ſo das Laͤcherliche einer halbgetroffenen Nachah- mung nicht einſieht. Wer haͤtte uns eher den Moſes im Heldengedichte ſingen koͤnnen, als Michaelis; und dennoch ließ er ihn liegen, nach der weiſen Horaziſchen Regel:
Si quae deſperas tractata niteſcere poſſe - - - relinque.
Koͤnn-
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moͤchte: ſo fehlt uns doch noch immer zu
viel, unſern dichteriſchen Stoff bis auf klei-
ne Nuancen aus ihrer Geſchichte zu borgen.
Unſer Publikum, das die Juden blos aus ei-
nem Huͤbner oder Jken kennet, wird einen
ewigen Commentar noͤthig haben, und Schoͤn-
heiten, die fuͤr das Auge daſtehen, mit dem
Fernglaſe anſehen muͤſſen. Und der Dichter
ſelbſt wird Muͤhe genug haben, in den Orien-
taliſchen Gedichten die beſtaͤndigen feinen An-
ſpielungen auf ihre Rettungen von Feinden,
auf ihre Urvaͤter, auf die Aegyptiſche Erret-
tung, auf ihre Reiſe durch die Wuͤſte u. ſ. w.
nur uͤberall bemerken zu koͤnnen; nur hoͤch-
ſtens die Haͤlfte von ihnen zu verlieren. Sie
ganz beſitzen zu wollen, ihre Schilderung
ſelbſt zu uͤbernehmen — das thut nur der, ſo
das Laͤcherliche einer halbgetroffenen Nachah-
mung nicht einſieht. Wer haͤtte uns eher den
Moſes im Heldengedichte ſingen koͤnnen, als
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- - - relinque.
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/45>, abgerufen am 16.02.2025.
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