Von dem sanften Sapphischen Feuer ist Longin, Catull und alle ihre Erklärer, nur nicht der böse Phaon, durchdrungen gewe- sen; und Longin, der Erhalter dieses Stücks, hat das Kunststück des Baumgartens vor- treflich gewust. seine Regeln vom hohen Em- pfindungsvollen in sein Beispiel selbst einzu- weben; allein die Deutsche Sappho, in ihrem Feuer mehr wild als sanft, mehr stürmisch als schmelzend, dörfte eher in ihren Werken Androgyne seyn, als eine zärtliche Freundin der Venus, wie die Griechin war.
Endlich die Wahl ihres Wohlklanges hat den Horaz zum Nachfolger erweckt, aber weit hinter sich gelassen: werden aber wohl Deutsche Horaze unsre Karschin zum Mu- ster nehmen wollen? Dörfte die Griechische Sappho nicht zu ihr sagen, was sie nach ei- nem ihrer Fragmente ihrem Mädchen sagt: "Du hast ja nie Rosen gepflückt, auf den "Pierischen Bergen, wo die Musen und Gra- "zien wohnen."
Jch wünsche unsrer Dichterin indessen nichts so sehr, als nicht das Gegenbild der
Sappho
Von dem ſanften Sapphiſchen Feuer iſt Longin, Catull und alle ihre Erklaͤrer, nur nicht der boͤſe Phaon, durchdrungen gewe- ſen; und Longin, der Erhalter dieſes Stuͤcks, hat das Kunſtſtuͤck des Baumgartens vor- treflich gewuſt. ſeine Regeln vom hohen Em- pfindungsvollen in ſein Beiſpiel ſelbſt einzu- weben; allein die Deutſche Sappho, in ihrem Feuer mehr wild als ſanft, mehr ſtuͤrmiſch als ſchmelzend, doͤrfte eher in ihren Werken Androgyne ſeyn, als eine zaͤrtliche Freundin der Venus, wie die Griechin war.
Endlich die Wahl ihres Wohlklanges hat den Horaz zum Nachfolger erweckt, aber weit hinter ſich gelaſſen: werden aber wohl Deutſche Horaze unſre Karſchin zum Mu- ſter nehmen wollen? Doͤrfte die Griechiſche Sappho nicht zu ihr ſagen, was ſie nach ei- nem ihrer Fragmente ihrem Maͤdchen ſagt: „Du haſt ja nie Roſen gepfluͤckt, auf den „Pieriſchen Bergen, wo die Muſen und Gra- „zien wohnen.„
Jch wuͤnſche unſrer Dichterin indeſſen nichts ſo ſehr, als nicht das Gegenbild der
Sappho
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Von dem ſanften Sapphiſchen Feuer iſt
Longin, Catull und alle ihre Erklaͤrer, nur
nicht der boͤſe Phaon, durchdrungen gewe-
ſen; und Longin, der Erhalter dieſes Stuͤcks,
hat das Kunſtſtuͤck des Baumgartens vor-
treflich gewuſt. ſeine Regeln vom hohen Em-
pfindungsvollen in ſein Beiſpiel ſelbſt einzu-
weben; allein die Deutſche Sappho, in ihrem
Feuer mehr wild als ſanft, mehr ſtuͤrmiſch
als ſchmelzend, doͤrfte eher in ihren Werken
Androgyne ſeyn, als eine zaͤrtliche Freundin
der Venus, wie die Griechin war.
Endlich die Wahl ihres Wohlklanges hat
den Horaz zum Nachfolger erweckt, aber
weit hinter ſich gelaſſen: werden aber wohl
Deutſche Horaze unſre Karſchin zum Mu-
ſter nehmen wollen? Doͤrfte die Griechiſche
Sappho nicht zu ihr ſagen, was ſie nach ei-
nem ihrer Fragmente ihrem Maͤdchen ſagt:
„Du haſt ja nie Roſen gepfluͤckt, auf den
„Pieriſchen Bergen, wo die Muſen und Gra-
„zien wohnen.„
Jch wuͤnſche unſrer Dichterin indeſſen
nichts ſo ſehr, als nicht das Gegenbild der
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 372. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/204>, abgerufen am 16.02.2025.
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