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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767.

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4.

Wo steht unsre Deutsche Sprache? Jn allen
Staaten ist zu unsrer Zeit die Prose die Spra-
che der Schriftsteller, und die Poesie eine Kunst,
die die Natur der Sprache verschönert, um
zu gefallen. Gegen die Alten und gegen die
wilden Sprachen zu rechnen, sind die Mund-
arten Europens mehr für die Ueberlegung,
als für die Sinne und die Einbildungskraft.

Die Prose ist uns die einzig natürliche
Sprache, und das seit undenklichen Zeiten ge-
wesen -- nun sollen wir diese Sprache aus-
bilden? Wie kann das seyn? Entweder zur
mehr dichterischen Sprache, damit der Stil
vielseitig, schön und lebhafter werde; oder zur
mehr Philosophischen Sprache, damit er
einseitig, richtig und deutlich werde; oder
wenn es möglich ist, zu allen beiden.

Das lezte kann in einem gewissen Grade
geschehen; und muß nach unsrer Zeit, Denk-
art und Nothwendigkeit auch geschehen. Als-
denn werden wir zwar von beiden Seiten
nicht die höchste Stuffe erreichen, weil beide
Enden nicht einen Punkt ausmachen können;
allein wir werden in der Mitte schweben,

und
4.

Wo ſteht unſre Deutſche Sprache? Jn allen
Staaten iſt zu unſrer Zeit die Proſe die Spra-
che der Schriftſteller, und die Poeſie eine Kunſt,
die die Natur der Sprache verſchoͤnert, um
zu gefallen. Gegen die Alten und gegen die
wilden Sprachen zu rechnen, ſind die Mund-
arten Europens mehr fuͤr die Ueberlegung,
als fuͤr die Sinne und die Einbildungskraft.

Die Proſe iſt uns die einzig natuͤrliche
Sprache, und das ſeit undenklichen Zeiten ge-
weſen — nun ſollen wir dieſe Sprache aus-
bilden? Wie kann das ſeyn? Entweder zur
mehr dichteriſchen Sprache, damit der Stil
vielſeitig, ſchoͤn und lebhafter werde; oder zur
mehr Philoſophiſchen Sprache, damit er
einſeitig, richtig und deutlich werde; oder
wenn es moͤglich iſt, zu allen beiden.

Das lezte kann in einem gewiſſen Grade
geſchehen; und muß nach unſrer Zeit, Denk-
art und Nothwendigkeit auch geſchehen. Als-
denn werden wir zwar von beiden Seiten
nicht die hoͤchſte Stuffe erreichen, weil beide
Enden nicht einen Punkt ausmachen koͤnnen;
allein wir werden in der Mitte ſchweben,

und
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[38/0042] 4. Wo ſteht unſre Deutſche Sprache? Jn allen Staaten iſt zu unſrer Zeit die Proſe die Spra- che der Schriftſteller, und die Poeſie eine Kunſt, die die Natur der Sprache verſchoͤnert, um zu gefallen. Gegen die Alten und gegen die wilden Sprachen zu rechnen, ſind die Mund- arten Europens mehr fuͤr die Ueberlegung, als fuͤr die Sinne und die Einbildungskraft. Die Proſe iſt uns die einzig natuͤrliche Sprache, und das ſeit undenklichen Zeiten ge- weſen — nun ſollen wir dieſe Sprache aus- bilden? Wie kann das ſeyn? Entweder zur mehr dichteriſchen Sprache, damit der Stil vielſeitig, ſchoͤn und lebhafter werde; oder zur mehr Philoſophiſchen Sprache, damit er einſeitig, richtig und deutlich werde; oder wenn es moͤglich iſt, zu allen beiden. Das lezte kann in einem gewiſſen Grade geſchehen; und muß nach unſrer Zeit, Denk- art und Nothwendigkeit auch geſchehen. Als- denn werden wir zwar von beiden Seiten nicht die hoͤchſte Stuffe erreichen, weil beide Enden nicht einen Punkt ausmachen koͤnnen; allein wir werden in der Mitte ſchweben, und

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur01_1767/42>, abgerufen am 13.11.2024.