de. Die beste Blüthe der Jugend in der Sprache war die Zeit der Dichter: jezt sangen die aoidoi und rapsodoi: da es noch keine Schriftsteller gab, so verewigten sie die merkwürdigsten Thaten durch Lieder: durch Gesänge lehrten sie, und in den Gesängen waren nach der damaligen Zeit der Welt Schlachten und Siege, Fabeln und Sitten- sprüche, Gesezze und Mythologie enthalten. Daß dies bei den Griechen so gewesen, be- weisen die Büchertitel der ältesten verlohrnen Schriftsteller, und daß es bei jedem Volk so gewesen, zeugen die ältesten Nachrichten.
Je älter der Jüngling wird, je mehr ern- ste Weisheit und politische Geseztheit seinen Carakter bildet: je mehr wird er männlich, und hört auf Jüngling zu seyn. Eine Spra- che, in ihrem männlichen Alter, ist nicht ei- gentlich mehr Poesie; sondern die schöne Prose. Jede hohe Stuffe neiget sich wieder zum Ab- fall, und wenn wir einen Zeitpunkt in der Sprache für den am meisten poetischen an- nehmen: so muß nach demselben die Dicht- kunst sich wieder neigen. Je mehr sie Kunst wird, je mehr entfernet sie sich von der Na-
tur.
de. Die beſte Bluͤthe der Jugend in der Sprache war die Zeit der Dichter: jezt ſangen die αοιδοι und ραψωδοι: da es noch keine Schriftſteller gab, ſo verewigten ſie die merkwuͤrdigſten Thaten durch Lieder: durch Geſaͤnge lehrten ſie, und in den Geſaͤngen waren nach der damaligen Zeit der Welt Schlachten und Siege, Fabeln und Sitten- ſpruͤche, Geſezze und Mythologie enthalten. Daß dies bei den Griechen ſo geweſen, be- weiſen die Buͤchertitel der aͤlteſten verlohrnen Schriftſteller, und daß es bei jedem Volk ſo geweſen, zeugen die aͤlteſten Nachrichten.
Je aͤlter der Juͤngling wird, je mehr ern- ſte Weisheit und politiſche Geſeztheit ſeinen Carakter bildet: je mehr wird er maͤnnlich, und hoͤrt auf Juͤngling zu ſeyn. Eine Spra- che, in ihrem maͤnnlichen Alter, iſt nicht ei- gentlich mehr Poeſie; ſondern die ſchoͤne Proſe. Jede hohe Stuffe neiget ſich wieder zum Ab- fall, und wenn wir einen Zeitpunkt in der Sprache fuͤr den am meiſten poetiſchen an- nehmen: ſo muß nach demſelben die Dicht- kunſt ſich wieder neigen. Je mehr ſie Kunſt wird, je mehr entfernet ſie ſich von der Na-
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Sprache war die Zeit der Dichter: jezt
ſangen die αοιδοι und ραψωδοι: da es noch
keine Schriftſteller gab, ſo verewigten ſie die
merkwuͤrdigſten Thaten durch Lieder: durch
Geſaͤnge lehrten ſie, und in den Geſaͤngen
waren nach der damaligen Zeit der Welt
Schlachten und Siege, Fabeln und Sitten-
ſpruͤche, Geſezze und Mythologie enthalten.
Daß dies bei den Griechen ſo geweſen, be-
weiſen die Buͤchertitel der aͤlteſten verlohrnen
Schriftſteller, und daß es bei jedem Volk ſo
geweſen, zeugen die aͤlteſten Nachrichten.
Je aͤlter der Juͤngling wird, je mehr ern-
ſte Weisheit und politiſche Geſeztheit ſeinen
Carakter bildet: je mehr wird er maͤnnlich,
und hoͤrt auf Juͤngling zu ſeyn. Eine Spra-
che, in ihrem maͤnnlichen Alter, iſt nicht ei-
gentlich mehr Poeſie; ſondern die ſchoͤne Proſe.
Jede hohe Stuffe neiget ſich wieder zum Ab-
fall, und wenn wir einen Zeitpunkt in der
Sprache fuͤr den am meiſten poetiſchen an-
nehmen: ſo muß nach demſelben die Dicht-
kunſt ſich wieder neigen. Je mehr ſie Kunſt
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur01_1767/35>, abgerufen am 16.02.2025.
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