Die Sprache ist ein Werkzeug der Wissen- schaften, und ein Theil derselben: wer über die Litteratur eines Landes schreibt, muß ihre Sprache auch nicht aus der Acht lassen.
Ein Volk, das ohne poetische Sprache große Dichter, ohne eine biegsame Sprache gute Prosaisten, ohne eine genaue Sprache große Weise gehabt hätte, ist ein Unding. Wenigstens müsten bei einer unausgebildeten Sprache die Geister, die gebohren sind, Hin- dernisse zu überwinden, selbst erfinden, sie müsten verwüsten und schaffen: schwächere Nachfol- ger aber quälen sich, ohne nachher zeigen zu können: das habe ich geliefert. Lernet also, ihr Kunstrichter! eure Sprache kennen: und sucht sie zur Poesie, zur Weltweisheit und zur Prose zu bereiten. Alsdenn ebnet ihr einen Boden, damit er ein Gebäude trage. Oder noch mehr! ihr lie- fert Werkzeuge für den Schriftsteller: für den Dichter schmiedet ihr Donnerkeile; für den Red-
ner
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Fragmente.
1.
Die Sprache iſt ein Werkzeug der Wiſſen- ſchaften, und ein Theil derſelben: wer uͤber die Litteratur eines Landes ſchreibt, muß ihre Sprache auch nicht aus der Acht laſſen.
Ein Volk, das ohne poetiſche Sprache große Dichter, ohne eine biegſame Sprache gute Proſaiſten, ohne eine genaue Sprache große Weiſe gehabt haͤtte, iſt ein Unding. Wenigſtens muͤſten bei einer unausgebildeten Sprache die Geiſter, die gebohren ſind, Hin- derniſſe zu uͤberwinden, ſelbſt erfinden, ſie muͤſten verwuͤſten und ſchaffen: ſchwaͤchere Nachfol- ger aber quaͤlen ſich, ohne nachher zeigen zu koͤnnen: das habe ich geliefert. Lernet alſo, ihr Kunſtrichter! eure Sprache kennen: und ſucht ſie zur Poeſie, zur Weltweisheit und zur Proſe zu bereiten. Alsdenn ebnet ihr einen Boden, damit er ein Gebaͤude trage. Oder noch mehr! ihr lie- fert Werkzeuge fuͤr den Schriftſteller: fuͤr den Dichter ſchmiedet ihr Donnerkeile; fuͤr den Red-
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Fragmente.
1.
Die Sprache iſt ein Werkzeug der Wiſſen-
ſchaften, und ein Theil derſelben: wer
uͤber die Litteratur eines Landes ſchreibt, muß
ihre Sprache auch nicht aus der Acht laſſen.
Ein Volk, das ohne poetiſche Sprache
große Dichter, ohne eine biegſame Sprache
gute Proſaiſten, ohne eine genaue Sprache
große Weiſe gehabt haͤtte, iſt ein Unding.
Wenigſtens muͤſten bei einer unausgebildeten
Sprache die Geiſter, die gebohren ſind, Hin-
derniſſe zu uͤberwinden, ſelbſt erfinden, ſie muͤſten
verwuͤſten und ſchaffen: ſchwaͤchere Nachfol-
ger aber quaͤlen ſich, ohne nachher zeigen zu
koͤnnen: das habe ich geliefert. Lernet alſo, ihr
Kunſtrichter! eure Sprache kennen: und ſucht
ſie zur Poeſie, zur Weltweisheit und zur Proſe zu
bereiten. Alsdenn ebnet ihr einen Boden, damit
er ein Gebaͤude trage. Oder noch mehr! ihr lie-
fert Werkzeuge fuͤr den Schriftſteller: fuͤr den
Dichter ſchmiedet ihr Donnerkeile; fuͤr den Red-
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767, S. [19]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur01_1767/23>, abgerufen am 16.02.2025.
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