Materien der Weltweisheit theilen sich am leichtsten jeder ausgebildeten Sprache mit, weil man hier vorzüglich die Richtigkeit und Deutlichkeit der Begriffe zum Hauptaugenmerk hat, und diese sich in jeder über das Sinnli- che erhabenen Sprache, obgleich nicht über- all gleich leicht erreichen läßt. Daß man an die neuere Lateinische Sprache hierinn so viel Werth geknüpfet, die Weltweisheit gleichsam nach ihren Worten bequemet, und den Be- grif einem Ausdruck zu gut erfunden: ist zwar durch eine langwierige Gewohnheit uns fast zur zweiten Natur geworden, und eher nüz- lich als schädlich. Man glaubt mit gewissen geerbten Worten Schäzze zu besitzen, und hat Hülsen statt des Kerns. Man machte z. E. einem neuern Gottesgelehrten den Ein- wurf, daß, wenn er seine Dogmatik Lateinisch geschrieben, viele Heterodoxien weggefallen wären; ich gebe es zu, beklage aber eine Or- thodoxie, die so sehr von einer Sprache ab- hängt, daß sie in derselben, wie in ihrem
Materien der Weltweisheit theilen ſich am leichtſten jeder ausgebildeten Sprache mit, weil man hier vorzuͤglich die Richtigkeit und Deutlichkeit der Begriffe zum Hauptaugenmerk hat, und dieſe ſich in jeder uͤber das Sinnli- che erhabenen Sprache, obgleich nicht uͤber- all gleich leicht erreichen laͤßt. Daß man an die neuere Lateiniſche Sprache hierinn ſo viel Werth geknuͤpfet, die Weltweisheit gleichſam nach ihren Worten bequemet, und den Be- grif einem Ausdruck zu gut erfunden: iſt zwar durch eine langwierige Gewohnheit uns faſt zur zweiten Natur geworden, und eher nuͤz- lich als ſchaͤdlich. Man glaubt mit gewiſſen geerbten Worten Schaͤzze zu beſitzen, und hat Huͤlſen ſtatt des Kerns. Man machte z. E. einem neuern Gottesgelehrten den Ein- wurf, daß, wenn er ſeine Dogmatik Lateiniſch geſchrieben, viele Heterodoxien weggefallen waͤren; ich gebe es zu, beklage aber eine Or- thodoxie, die ſo ſehr von einer Sprache ab- haͤngt, daß ſie in derſelben, wie in ihrem
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Sprachen ſich vorzuͤglich ſchoͤn behandeln
laſſen.
Materien der Weltweisheit theilen ſich
am leichtſten jeder ausgebildeten Sprache mit,
weil man hier vorzuͤglich die Richtigkeit und
Deutlichkeit der Begriffe zum Hauptaugenmerk
hat, und dieſe ſich in jeder uͤber das Sinnli-
che erhabenen Sprache, obgleich nicht uͤber-
all gleich leicht erreichen laͤßt. Daß man an
die neuere Lateiniſche Sprache hierinn ſo viel
Werth geknuͤpfet, die Weltweisheit gleichſam
nach ihren Worten bequemet, und den Be-
grif einem Ausdruck zu gut erfunden: iſt zwar
durch eine langwierige Gewohnheit uns faſt
zur zweiten Natur geworden, und eher nuͤz-
lich als ſchaͤdlich. Man glaubt mit gewiſſen
geerbten Worten Schaͤzze zu beſitzen, und
hat Huͤlſen ſtatt des Kerns. Man machte
z. E. einem neuern Gottesgelehrten den Ein-
wurf, daß, wenn er ſeine Dogmatik Lateiniſch
geſchrieben, viele Heterodoxien weggefallen
waͤren; ich gebe es zu, beklage aber eine Or-
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur01_1767/181>, abgerufen am 16.02.2025.
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