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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767.

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der Französischen Karaktere, und der Britti-
schen erdachten Beispiele, durch Geschichte
lehrt, nährt unsern Geist, und seine Schreib-
art unsere Einbildungskraft. Das Feuer
der Phantasie, in dem der Verfasser dach-
te, und schrieb, aber nicht hätte lesen sol-
len; glüht jeden Leser an, der es versteht,
ein Buch in eine Person, und todte Buchsta-
ben in Sprache zu verwandeln; alsdenn hört
man, und denkt, und fühlt mit dem Autor.
Kannst du aber, lieber Leser! nichts als lesen,
nicht die Lücken, die dir überlassen wurden,
in Gedanken selbst ausfüllen, nicht weiter den-
ken, wo dir Aussichten eröfnet werden: so
wirst du inne werden, was vielleicht eben der
Verfasser sagt: "dem Sprechenden helfen
"seine Geberden, und der Ton der Stimme
"den Verstand bestimmen: da dies alles hin-
"gegen in einem Buche wegfällt." * Wenn

ich
* Da Abbt in seiner Vorrede den werthen Herrn
Claville nennt: so führe ich einen andern Fran-
zösischen Schriftsteller unsers Jahrhunderts an:
Tr[a]ite du merite p. Mons. l'Abbe de Vassez:
1703. und die zweite Ausgabe 1704. der aber
über das Verdienst sehr Französirt zu haben
scheint: da er von den Verdiensten eines bel-
esprit,
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der Franzoͤſiſchen Karaktere, und der Britti-
ſchen erdachten Beiſpiele, durch Geſchichte
lehrt, naͤhrt unſern Geiſt, und ſeine Schreib-
art unſere Einbildungskraft. Das Feuer
der Phantaſie, in dem der Verfaſſer dach-
te, und ſchrieb, aber nicht haͤtte leſen ſol-
len; gluͤht jeden Leſer an, der es verſteht,
ein Buch in eine Perſon, und todte Buchſta-
ben in Sprache zu verwandeln; alsdenn hoͤrt
man, und denkt, und fuͤhlt mit dem Autor.
Kannſt du aber, lieber Leſer! nichts als leſen,
nicht die Luͤcken, die dir uͤberlaſſen wurden,
in Gedanken ſelbſt ausfuͤllen, nicht weiter den-
ken, wo dir Ausſichten eroͤfnet werden: ſo
wirſt du inne werden, was vielleicht eben der
Verfaſſer ſagt: „dem Sprechenden helfen
„ſeine Geberden, und der Ton der Stimme
„den Verſtand beſtimmen: da dies alles hin-
„gegen in einem Buche wegfaͤllt.„ * Wenn

ich
* Da Abbt in ſeiner Vorrede den werthen Herrn
Claville nennt: ſo fuͤhre ich einen andern Fran-
zoͤſiſchen Schriftſteller unſers Jahrhunderts an:
Tr[a]ité du merite p. Monſ. l’Abbé de Vaſſez:
1703. und die zweite Ausgabe 1704. der aber
uͤber das Verdienſt ſehr Franzoͤſirt zu haben
ſcheint: da er von den Verdienſten eines bel-
eſprit,
K 4
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[151/0155] der Franzoͤſiſchen Karaktere, und der Britti- ſchen erdachten Beiſpiele, durch Geſchichte lehrt, naͤhrt unſern Geiſt, und ſeine Schreib- art unſere Einbildungskraft. Das Feuer der Phantaſie, in dem der Verfaſſer dach- te, und ſchrieb, aber nicht haͤtte leſen ſol- len; gluͤht jeden Leſer an, der es verſteht, ein Buch in eine Perſon, und todte Buchſta- ben in Sprache zu verwandeln; alsdenn hoͤrt man, und denkt, und fuͤhlt mit dem Autor. Kannſt du aber, lieber Leſer! nichts als leſen, nicht die Luͤcken, die dir uͤberlaſſen wurden, in Gedanken ſelbſt ausfuͤllen, nicht weiter den- ken, wo dir Ausſichten eroͤfnet werden: ſo wirſt du inne werden, was vielleicht eben der Verfaſſer ſagt: „dem Sprechenden helfen „ſeine Geberden, und der Ton der Stimme „den Verſtand beſtimmen: da dies alles hin- „gegen in einem Buche wegfaͤllt.„ * Wenn ich * Da Abbt in ſeiner Vorrede den werthen Herrn Claville nennt: ſo fuͤhre ich einen andern Fran- zoͤſiſchen Schriftſteller unſers Jahrhunderts an: Traité du merite p. Monſ. l’Abbé de Vaſſez: 1703. und die zweite Ausgabe 1704. der aber uͤber das Verdienſt ſehr Franzoͤſirt zu haben ſcheint: da er von den Verdienſten eines bel- eſprit, K 4

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur01_1767/155>, abgerufen am 25.11.2024.