Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 3. Riga, 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Kritische Wälder.
Eins erbitten, historisches Temperament: die
gleichmäßige Denkart, was er sieht, gerad an zu
sehen, und was er spricht, ganz zu sprechen; noch
hat er kaum Eins von beiden. Wenn ich einen
recht schön gesagten, und beinahe rednerischen Cha-
rakter von Karl dem Großen lesen will: so lese
ich ihn, gegen den der Hausensche nichts ist, in
unserm deutschen Bossuet: in diesem classischen
Werke -- vielleicht das Einzige, womit unser
Cramer vor der Nachwelt erscheinen wird -- --

Das war das Gefallende: aber was ist das
Schöngesagte bei einem Charakter der Geschichte?
nichts! Leget mir der Geschichtschreiber nicht erst
die Data der Geschichte ausführlich, richtig,
ordentlich vor, daß ich nachher selbst mit ihm
den Charakter ausziehen darf, daß er, nach jener
längstabgekommenen sokratischen Manier, nur meine
Erinnerung wecket, und nicht mir vorcharakteri-
sirt, sondern mich aus vorgelegten Einzelnheiten
den Charakter selbst finden lehret -- thut er dies
nicht: so ist der Geschichtschreiber ein Romanen-
schreiber. Und das ist Hausen bei seinen geprie-
senen Charakteren. Die Lebensdata, die Thaten,
wo sich Denkart äussert, sind bei ihm wenig oder
nichts -- mit einmal strömt Seiten herab ein
Charakter: ein vom Himmel gefallenes Bild, eine
Figur, zu der das Vorstehende auch nicht einmal
Fußgestelle seyn kann -- ist das Geschichte?

Roman,

Kritiſche Waͤlder.
Eins erbitten, hiſtoriſches Temperament: die
gleichmaͤßige Denkart, was er ſieht, gerad an zu
ſehen, und was er ſpricht, ganz zu ſprechen; noch
hat er kaum Eins von beiden. Wenn ich einen
recht ſchoͤn geſagten, und beinahe redneriſchen Cha-
rakter von Karl dem Großen leſen will: ſo leſe
ich ihn, gegen den der Hauſenſche nichts iſt, in
unſerm deutſchen Boſſuet: in dieſem claſſiſchen
Werke — vielleicht das Einzige, womit unſer
Cramer vor der Nachwelt erſcheinen wird — —

Das war das Gefallende: aber was iſt das
Schoͤngeſagte bei einem Charakter der Geſchichte?
nichts! Leget mir der Geſchichtſchreiber nicht erſt
die Data der Geſchichte ausfuͤhrlich, richtig,
ordentlich vor, daß ich nachher ſelbſt mit ihm
den Charakter ausziehen darf, daß er, nach jener
laͤngſtabgekommenen ſokratiſchen Manier, nur meine
Erinnerung wecket, und nicht mir vorcharakteri-
ſirt, ſondern mich aus vorgelegten Einzelnheiten
den Charakter ſelbſt finden lehret — thut er dies
nicht: ſo iſt der Geſchichtſchreiber ein Romanen-
ſchreiber. Und das iſt Hauſen bei ſeinen geprie-
ſenen Charakteren. Die Lebensdata, die Thaten,
wo ſich Denkart aͤuſſert, ſind bei ihm wenig oder
nichts — mit einmal ſtroͤmt Seiten herab ein
Charakter: ein vom Himmel gefallenes Bild, eine
Figur, zu der das Vorſtehende auch nicht einmal
Fußgeſtelle ſeyn kann — iſt das Geſchichte?

Roman,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0150" n="144"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Kriti&#x017F;che Wa&#x0364;lder.</hi></fw><lb/>
Eins erbitten, hi&#x017F;tori&#x017F;ches Temperament: die<lb/>
gleichma&#x0364;ßige Denkart, was er &#x017F;ieht, gerad an zu<lb/>
&#x017F;ehen, und was er &#x017F;pricht, ganz zu &#x017F;prechen; noch<lb/>
hat er kaum Eins von beiden. Wenn ich einen<lb/><hi rendition="#fr">recht &#x017F;cho&#x0364;n</hi> ge&#x017F;agten, und beinahe redneri&#x017F;chen Cha-<lb/>
rakter von <hi rendition="#fr">Karl dem Großen</hi> le&#x017F;en will: &#x017F;o le&#x017F;e<lb/>
ich ihn, gegen den der Hau&#x017F;en&#x017F;che nichts i&#x017F;t, in<lb/>
un&#x017F;erm deut&#x017F;chen <hi rendition="#fr">Bo&#x017F;&#x017F;uet:</hi> in die&#x017F;em cla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen<lb/>
Werke &#x2014; vielleicht das Einzige, womit un&#x017F;er<lb/>
Cramer vor der Nachwelt er&#x017F;cheinen wird &#x2014; &#x2014;</p><lb/>
          <p>Das war das Gefallende: aber was i&#x017F;t das<lb/>
Scho&#x0364;nge&#x017F;agte bei einem Charakter der Ge&#x017F;chichte?<lb/>
nichts! Leget mir der Ge&#x017F;chicht&#x017F;chreiber nicht er&#x017F;t<lb/>
die Data der Ge&#x017F;chichte ausfu&#x0364;hrlich, richtig,<lb/>
ordentlich vor, daß ich nachher <hi rendition="#fr">&#x017F;elb&#x017F;t mit ihm</hi><lb/>
den Charakter ausziehen darf, daß er, nach jener<lb/>
la&#x0364;ng&#x017F;tabgekommenen &#x017F;okrati&#x017F;chen Manier, nur meine<lb/>
Erinnerung wecket, und nicht mir vorcharakteri-<lb/>
&#x017F;irt, &#x017F;ondern mich aus vorgelegten Einzelnheiten<lb/>
den Charakter &#x017F;elb&#x017F;t finden lehret &#x2014; thut er dies<lb/>
nicht: &#x017F;o i&#x017F;t der Ge&#x017F;chicht&#x017F;chreiber ein Romanen-<lb/>
&#x017F;chreiber. Und das i&#x017F;t Hau&#x017F;en bei &#x017F;einen geprie-<lb/>
&#x017F;enen Charakteren. Die Lebensdata, die Thaten,<lb/>
wo &#x017F;ich Denkart a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;ert, &#x017F;ind bei ihm wenig oder<lb/>
nichts &#x2014; mit einmal &#x017F;tro&#x0364;mt Seiten herab ein<lb/>
Charakter: ein vom Himmel gefallenes Bild, eine<lb/>
Figur, zu der das Vor&#x017F;tehende auch nicht einmal<lb/>
Fußge&#x017F;telle &#x017F;eyn kann &#x2014; i&#x017F;t das Ge&#x017F;chichte?<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Roman,</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[144/0150] Kritiſche Waͤlder. Eins erbitten, hiſtoriſches Temperament: die gleichmaͤßige Denkart, was er ſieht, gerad an zu ſehen, und was er ſpricht, ganz zu ſprechen; noch hat er kaum Eins von beiden. Wenn ich einen recht ſchoͤn geſagten, und beinahe redneriſchen Cha- rakter von Karl dem Großen leſen will: ſo leſe ich ihn, gegen den der Hauſenſche nichts iſt, in unſerm deutſchen Boſſuet: in dieſem claſſiſchen Werke — vielleicht das Einzige, womit unſer Cramer vor der Nachwelt erſcheinen wird — — Das war das Gefallende: aber was iſt das Schoͤngeſagte bei einem Charakter der Geſchichte? nichts! Leget mir der Geſchichtſchreiber nicht erſt die Data der Geſchichte ausfuͤhrlich, richtig, ordentlich vor, daß ich nachher ſelbſt mit ihm den Charakter ausziehen darf, daß er, nach jener laͤngſtabgekommenen ſokratiſchen Manier, nur meine Erinnerung wecket, und nicht mir vorcharakteri- ſirt, ſondern mich aus vorgelegten Einzelnheiten den Charakter ſelbſt finden lehret — thut er dies nicht: ſo iſt der Geſchichtſchreiber ein Romanen- ſchreiber. Und das iſt Hauſen bei ſeinen geprie- ſenen Charakteren. Die Lebensdata, die Thaten, wo ſich Denkart aͤuſſert, ſind bei ihm wenig oder nichts — mit einmal ſtroͤmt Seiten herab ein Charakter: ein vom Himmel gefallenes Bild, eine Figur, zu der das Vorſtehende auch nicht einmal Fußgeſtelle ſeyn kann — iſt das Geſchichte? Roman,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische03_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische03_1769/150
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 3. Riga, 1769, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische03_1769/150>, abgerufen am 24.11.2024.