Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Kritische Wälder.
"sen, wenn es sich nicht erlauben dürfte, an der
"Allgemeinheit jenes Satzes zu zweifeln? Haben
"z. E. die Griechen die Vorstellungen ausdrücken
"können, die wir uns von Engeln machen müssen?
"Aber wie vortrefflich haben sie oft nicht die Göt-
"ter vorgestellt! Sollten wir nicht die Engel so
"machen? Gewiß nicht völlig so! wir sollten jene
"Vorstellungen der Götter übertreffen. Bisher
"zwar sind wir, von diesem übertroffen, sehr weit
"entfernt gewesen. Wir malen Kinderchen, Frau-
"enzimmer, und wenn wir uns recht hoch schwin-
"gen, schöne Jünglinge; geben diesen Figuren Flü-
"gel, und bilden uns ein, Engel vorgestellt zu ha-
"ben. So gar Raphaels Michael ist ein Jüng-
"ling; und er sollte doch wenigstens ein Jupiter
"seyn, der eben gedonnert hat. Wenn nun Ra-
"phael vollends einen Todesengel hätte machen sol-
"len; z. E. einen, durch dessen bloßen Anblick der
"erstgebohrne Sohn Pharaos niedersinkt. Mi-
"chael Angelo also, wird man sagen. Nein, der
"auch nicht: denn er übertrieb zu oft. Der
"Contour des wahren Großen ist sehr fein! Wenn
"die Hand nur ein wenig ruckt: so kann es über-
"trieben werden. Wer also? Vielleicht ein noch
"ungebohrner Künstler, dem es aufbehalten ist, die
"heilige Geschichte würdig vorzustellen, nämlich die
"meisten schon oft wiederholten, neu, und denn viele
"sehr erhabene, die noch niemals gemacht worden

"sind.

Kritiſche Waͤlder.
„ſen, wenn es ſich nicht erlauben duͤrfte, an der
„Allgemeinheit jenes Satzes zu zweifeln? Haben
„z. E. die Griechen die Vorſtellungen ausdruͤcken
„koͤnnen, die wir uns von Engeln machen muͤſſen?
„Aber wie vortrefflich haben ſie oft nicht die Goͤt-
„ter vorgeſtellt! Sollten wir nicht die Engel ſo
„machen? Gewiß nicht voͤllig ſo! wir ſollten jene
„Vorſtellungen der Goͤtter uͤbertreffen. Bisher
„zwar ſind wir, von dieſem uͤbertroffen, ſehr weit
„entfernt geweſen. Wir malen Kinderchen, Frau-
„enzimmer, und wenn wir uns recht hoch ſchwin-
„gen, ſchoͤne Juͤnglinge; geben dieſen Figuren Fluͤ-
„gel, und bilden uns ein, Engel vorgeſtellt zu ha-
„ben. So gar Raphaels Michael iſt ein Juͤng-
„ling; und er ſollte doch wenigſtens ein Jupiter
„ſeyn, der eben gedonnert hat. Wenn nun Ra-
„phael vollends einen Todesengel haͤtte machen ſol-
„len; z. E. einen, durch deſſen bloßen Anblick der
„erſtgebohrne Sohn Pharaos niederſinkt. Mi-
„chael Angelo alſo, wird man ſagen. Nein, der
„auch nicht: denn er uͤbertrieb zu oft. Der
„Contour des wahren Großen iſt ſehr fein! Wenn
„die Hand nur ein wenig ruckt: ſo kann es uͤber-
„trieben werden. Wer alſo? Vielleicht ein noch
„ungebohrner Kuͤnſtler, dem es aufbehalten iſt, die
„heilige Geſchichte wuͤrdig vorzuſtellen, naͤmlich die
„meiſten ſchon oft wiederholten, neu, und denn viele
„ſehr erhabene, die noch niemals gemacht worden

„ſind.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0096" n="90"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Kriti&#x017F;che Wa&#x0364;lder.</hi></fw><lb/>
&#x201E;&#x017F;en, wenn es &#x017F;ich nicht erlauben du&#x0364;rfte, an der<lb/>
&#x201E;Allgemeinheit jenes Satzes zu zweifeln? Haben<lb/>
&#x201E;z. E. die Griechen die Vor&#x017F;tellungen ausdru&#x0364;cken<lb/>
&#x201E;ko&#x0364;nnen, die wir uns von Engeln machen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en?<lb/>
&#x201E;Aber wie vortrefflich haben &#x017F;ie oft nicht die Go&#x0364;t-<lb/>
&#x201E;ter vorge&#x017F;tellt! Sollten wir nicht die Engel &#x017F;o<lb/>
&#x201E;machen? Gewiß nicht vo&#x0364;llig &#x017F;o! wir &#x017F;ollten jene<lb/>
&#x201E;Vor&#x017F;tellungen der Go&#x0364;tter u&#x0364;bertreffen. Bisher<lb/>
&#x201E;zwar &#x017F;ind wir, von die&#x017F;em u&#x0364;bertroffen, &#x017F;ehr weit<lb/>
&#x201E;entfernt gewe&#x017F;en. Wir malen Kinderchen, Frau-<lb/>
&#x201E;enzimmer, und wenn wir uns recht hoch &#x017F;chwin-<lb/>
&#x201E;gen, &#x017F;cho&#x0364;ne Ju&#x0364;nglinge; geben die&#x017F;en Figuren Flu&#x0364;-<lb/>
&#x201E;gel, und bilden uns ein, Engel vorge&#x017F;tellt zu ha-<lb/>
&#x201E;ben. So gar Raphaels Michael i&#x017F;t ein Ju&#x0364;ng-<lb/>
&#x201E;ling; und er &#x017F;ollte doch wenig&#x017F;tens ein Jupiter<lb/>
&#x201E;&#x017F;eyn, der eben gedonnert hat. Wenn nun Ra-<lb/>
&#x201E;phael vollends einen Todesengel ha&#x0364;tte machen &#x017F;ol-<lb/>
&#x201E;len; z. E. einen, durch de&#x017F;&#x017F;en bloßen Anblick der<lb/>
&#x201E;er&#x017F;tgebohrne Sohn Pharaos nieder&#x017F;inkt. Mi-<lb/>
&#x201E;chael Angelo al&#x017F;o, wird man &#x017F;agen. Nein, der<lb/>
&#x201E;auch nicht: denn er u&#x0364;bertrieb zu oft. Der<lb/>
&#x201E;Contour des wahren Großen i&#x017F;t &#x017F;ehr fein! Wenn<lb/>
&#x201E;die Hand nur ein wenig ruckt: &#x017F;o kann es u&#x0364;ber-<lb/>
&#x201E;trieben werden. Wer al&#x017F;o? Vielleicht ein noch<lb/>
&#x201E;ungebohrner Ku&#x0364;n&#x017F;tler, dem es aufbehalten i&#x017F;t, die<lb/>
&#x201E;heilige Ge&#x017F;chichte wu&#x0364;rdig vorzu&#x017F;tellen, na&#x0364;mlich die<lb/>
&#x201E;mei&#x017F;ten &#x017F;chon oft wiederholten, neu, und denn viele<lb/>
&#x201E;&#x017F;ehr erhabene, die noch niemals gemacht worden<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x201E;&#x017F;ind.</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[90/0096] Kritiſche Waͤlder. „ſen, wenn es ſich nicht erlauben duͤrfte, an der „Allgemeinheit jenes Satzes zu zweifeln? Haben „z. E. die Griechen die Vorſtellungen ausdruͤcken „koͤnnen, die wir uns von Engeln machen muͤſſen? „Aber wie vortrefflich haben ſie oft nicht die Goͤt- „ter vorgeſtellt! Sollten wir nicht die Engel ſo „machen? Gewiß nicht voͤllig ſo! wir ſollten jene „Vorſtellungen der Goͤtter uͤbertreffen. Bisher „zwar ſind wir, von dieſem uͤbertroffen, ſehr weit „entfernt geweſen. Wir malen Kinderchen, Frau- „enzimmer, und wenn wir uns recht hoch ſchwin- „gen, ſchoͤne Juͤnglinge; geben dieſen Figuren Fluͤ- „gel, und bilden uns ein, Engel vorgeſtellt zu ha- „ben. So gar Raphaels Michael iſt ein Juͤng- „ling; und er ſollte doch wenigſtens ein Jupiter „ſeyn, der eben gedonnert hat. Wenn nun Ra- „phael vollends einen Todesengel haͤtte machen ſol- „len; z. E. einen, durch deſſen bloßen Anblick der „erſtgebohrne Sohn Pharaos niederſinkt. Mi- „chael Angelo alſo, wird man ſagen. Nein, der „auch nicht: denn er uͤbertrieb zu oft. Der „Contour des wahren Großen iſt ſehr fein! Wenn „die Hand nur ein wenig ruckt: ſo kann es uͤber- „trieben werden. Wer alſo? Vielleicht ein noch „ungebohrner Kuͤnſtler, dem es aufbehalten iſt, die „heilige Geſchichte wuͤrdig vorzuſtellen, naͤmlich die „meiſten ſchon oft wiederholten, neu, und denn viele „ſehr erhabene, die noch niemals gemacht worden „ſind.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/96
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/96>, abgerufen am 25.11.2024.