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Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

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Kritische Wälder.
misch dichten; nun stehen wir vor einer dreifachen
Wegescheidung -- wer kann alle drei mit einmal
gehen, ohne auf keiner zu weit hin zu wanken?

Jch sehe keinen andern Rath, als daß man
über ein heiliges Sujet niemals Latein, ich mei-
ne römisch Latein, gedichtet hätte! denn immer ist
eine Mischung von Sprach - und Denkarten unver-
meidlich. Der Orient soll sich in den Occident
stürzen, Geist der Religion, und der altrömischen
Poesie sollen sich umarmen; ein seltnes Paar! aus
Cicero soll ein Compendium der Theologie geschöpft,
und doch kein römischer Begriff dahin übertragen,
und keinem Begriffe der Orthodoxie etwas von sei-
ner systematischen Strenge benommen werden --
schwere Verbindung! Sannazaro will de partu
Virginis
schreiben, und zugleich nie seinen Virgil
verlassen: Buchanan einen Baptistes schreiben,
und doch seine Juden römisch sprechen lassen --
widrige Vermischung! Ueberläßt sich der Dich-
ter dem Geiste seiner Religion; so wird er Jüdisch-
so wird er Christlichlatein zu sprechen in Gefahr kom-
men; folgt er dem Geiste der römischen Poesie,
Denkart und Sprache; wie weit von Judäa ab
wird der ihn hinführen! Will er, als ein Helleniste,
auf beiden Wegen gehen, und Gleichgewicht hal-
ten -- unwürdige, ermattende Wachsamkeit! drü-
ckendes Joch des Geistes, der in der Poesie nichts
so sehr, als Freiheit, liebet. Der furchtsame matte

Dich-

Kritiſche Waͤlder.
miſch dichten; nun ſtehen wir vor einer dreifachen
Wegeſcheidung — wer kann alle drei mit einmal
gehen, ohne auf keiner zu weit hin zu wanken?

Jch ſehe keinen andern Rath, als daß man
uͤber ein heiliges Sujet niemals Latein, ich mei-
ne roͤmiſch Latein, gedichtet haͤtte! denn immer iſt
eine Miſchung von Sprach - und Denkarten unver-
meidlich. Der Orient ſoll ſich in den Occident
ſtuͤrzen, Geiſt der Religion, und der altroͤmiſchen
Poeſie ſollen ſich umarmen; ein ſeltnes Paar! aus
Cicero ſoll ein Compendium der Theologie geſchoͤpft,
und doch kein roͤmiſcher Begriff dahin uͤbertragen,
und keinem Begriffe der Orthodoxie etwas von ſei-
ner ſyſtematiſchen Strenge benommen werden —
ſchwere Verbindung! Sannazaro will de partu
Virginis
ſchreiben, und zugleich nie ſeinen Virgil
verlaſſen: Buchanan einen Baptiſtes ſchreiben,
und doch ſeine Juden roͤmiſch ſprechen laſſen —
widrige Vermiſchung! Ueberlaͤßt ſich der Dich-
ter dem Geiſte ſeiner Religion; ſo wird er Juͤdiſch-
ſo wird er Chriſtlichlatein zu ſprechen in Gefahr kom-
men; folgt er dem Geiſte der roͤmiſchen Poeſie,
Denkart und Sprache; wie weit von Judaͤa ab
wird der ihn hinfuͤhren! Will er, als ein Helleniſte,
auf beiden Wegen gehen, und Gleichgewicht hal-
ten — unwuͤrdige, ermattende Wachſamkeit! druͤ-
ckendes Joch des Geiſtes, der in der Poeſie nichts
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Dich-
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[60/0066] Kritiſche Waͤlder. miſch dichten; nun ſtehen wir vor einer dreifachen Wegeſcheidung — wer kann alle drei mit einmal gehen, ohne auf keiner zu weit hin zu wanken? Jch ſehe keinen andern Rath, als daß man uͤber ein heiliges Sujet niemals Latein, ich mei- ne roͤmiſch Latein, gedichtet haͤtte! denn immer iſt eine Miſchung von Sprach - und Denkarten unver- meidlich. Der Orient ſoll ſich in den Occident ſtuͤrzen, Geiſt der Religion, und der altroͤmiſchen Poeſie ſollen ſich umarmen; ein ſeltnes Paar! aus Cicero ſoll ein Compendium der Theologie geſchoͤpft, und doch kein roͤmiſcher Begriff dahin uͤbertragen, und keinem Begriffe der Orthodoxie etwas von ſei- ner ſyſtematiſchen Strenge benommen werden — ſchwere Verbindung! Sannazaro will de partu Virginis ſchreiben, und zugleich nie ſeinen Virgil verlaſſen: Buchanan einen Baptiſtes ſchreiben, und doch ſeine Juden roͤmiſch ſprechen laſſen — widrige Vermiſchung! Ueberlaͤßt ſich der Dich- ter dem Geiſte ſeiner Religion; ſo wird er Juͤdiſch- ſo wird er Chriſtlichlatein zu ſprechen in Gefahr kom- men; folgt er dem Geiſte der roͤmiſchen Poeſie, Denkart und Sprache; wie weit von Judaͤa ab wird der ihn hinfuͤhren! Will er, als ein Helleniſte, auf beiden Wegen gehen, und Gleichgewicht hal- ten — unwuͤrdige, ermattende Wachſamkeit! druͤ- ckendes Joch des Geiſtes, der in der Poeſie nichts ſo ſehr, als Freiheit, liebet. Der furchtſame matte Dich-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/66>, abgerufen am 25.11.2024.